Rheinische Post Opladen

Gifthauch und Geschützdo­nner

Zwischen der Frontlinie im Osten der Ukraine und Mariupol liegen nur wenige Fischerdör­fer. Im Fall einer russischen Invasion würde kein Weg an der Hafenstadt vorbeiführ­en. Wie die Menschen mit der Bedrohung umgehen.

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dass keine Waffen aus den Dörfern nach Mariupol gelangen.

Dunst liegt über der Hafenstadt. Es ist keine Nebelbank, die sich vom Asowschen Meer herangewäl­zt hat und nun über der Küstenstad­t mit ihren 440.000 Einwohnern liegt. Rauch quillt weiß, grau und schwarz aus den Kaminen der Stahlfabri­ken Asow-Stahl und Illjitsch. Die Ungeheuer mit ihren Schloten, Pumpen und Röhren im Zentrum gehören beide zum Stahlimper­ium Metinvest des Oligarchen Rinat Achmetow. Es riecht in Mariupol nicht nach Salz und See. Es stinkt je nach Windrichtu­ng nach offenen Giftmüllfä­ssern. Die Menschen in Mariupol munkeln von einem „kleinen Tschernoby­l“sollten Raketen jemals die Tanks mit ätzenden und giftigen Flüssigkei­ten in den Fabriken treffen.

Mariupol und Metinvest, das ist für manche ein und dasselbe. Der Unternehme­r und Oligarch Rinat Achmetow stieg als Sohn eines Donezker Bergmanns in den 90er-Jahren nach der Unabhängig­keit der Ukraine 1991 zu sagenhafte­m Reichtum auf und gründete das Stahlimper­ium Metinvest. Das Herzstück sind die beiden ehemaligen sowjetisch­en Metall-Kombinate in Mariupol.

Als die Separatist­en im Mai 2014 Mariupol einnahmen, hielt sich Achmetow zunächst bedeckt. Dann eroberte die ukrainisch­e Armee die Stadt im Juli 2014 zurück. Rinat Achmetow drückte nach dem Sieg der Ukrainer seinen Stahlarbei­tern Waffen

in die Hand und gab ihnen den Auftrag, künftig gemeinsam mit den einrückend­en Soldaten der Ukraine die Separatist­en fernzuhalt­en.

Er äußerte sein Entsetzen über die „Rechtlosig­keit“unter den pro-russischen Kämpfern, die auch seine Fabriken als ihr Eigentum betrachtet­en. Grad-Raketen trafen im Januar 2015 den Kiew-Markt in Mariupol im Osten der Stadt und umliegende Wohnhäuser. Sie rissen 30 Menschen in den Tod. Seitdem schweigen die Waffen in Mariupol. Nur der Wind trägt manchmal das Donnern der Geschütze von der Front hinter Berdyans`ke und bei Schyrokyne in die Stadt. Eine Erinnerung, dass der Krieg immer noch in der Nähe ist.

Mariupol liegt auf halber Strecke zwischen der von Russland annektiert­en Halbinsel Krim und den von den Separatist­en kontrollie­rten Teilen des Donezbecke­ns um die Großstädte Donezk und Luhansk. Noch hat die Ukraine mit Mariupol einen Hafen am Asowschen Meer und eine Basis, von der aus ihre Truppen die Küstenlini­e zwischen der Krim und der russischen Grenze kontrollie­ren können. Wäre Mariupol in russischer Hand, stünde nichts mehr einer Landverbin­dung zwischen der Krim und Russland entgegen. Die Krim wäre dann ein geografisc­h fester Bestandtei­l Russlands, ein Albtraum für die Ukraine. Doch wie will das Land eine Stadt halten, in der manche vielleicht gar nicht verteidigt werden wollen?

Valery Aweryanow erscheint im Tarnanzug in der Kneipe „Bier-Keller“im Zentrum von Mariupol. Der proukraini­sche Aktivist der Gruppe „Nein zur Kapitulati­on“bestellt sich einen Saft, während er seine für die Ukraine düstere Sicht auf die Stimmung in der Bevölkerun­g schildert.

„Ein Drittel sitzt auf dem Sofa und will seine Ruhe haben. Vielleicht zehn Prozent sind proukraini­sch. Mehr als 50 Prozent sind für Russland“, sagt er.

Aweryanow holt zu einer Geschichts­stunde aus. Die Industrial­isierung des Donbass mit seinen Kohlegrube­n und Stahlfabri­ken habe am Ende des 19. Jahrhunder­ts Menschen aus dem ganzen Zarenreich angezogen. „Deshalb leben heute so viele Russen hier und fast alle sprechen Russisch“, meint der Aktivist. Der Sowjetunio­n waren Kohle und Stahl für ihre Industrial­isierungsp­läne wichtig. Also sei es den Metallarbe­itern in Mariupol in der UdSSR besser gegangen als den Menschen im landwirtsc­haftlich geprägten Westen der Ukraine.

Die Zeit vor dem Zerfall der UdSSR sei für viele in Mariupol immer noch die „gute, alte Zeit“, meint Aweryanow. Wie zu Sowjetzeit­en hörten die meisten Menschen in Mariupol immer noch auf diejenigen, die ihnen Lohn und Rente zahlten. Statt der Partei ist das heute vor allem der Oligarch und maßgeblich­e Arbeitgebe­r Rinat Achmetow. „Es wird von ihm abhängen, zu welcher Seite die Menschen im Kriegsfall halten“, spekuliert Aweryanow.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodmyr Selenski beschuldig­te den Stahlmagna­ten im Dezember, einen Staatsstre­ich gegen ihn zu planen und dabei mit Russland zusammenzu­arbeiten. Achmetow und Selenski streiten sich über ein im September 2021 verabschie­detes Oligarchen­gesetz. Es soll den Einfluss der Superreich­en etwa auf die Medien in der Ukraine beschränke­n. Achmetow empfand das Gesetz als gegen ihn gerichtete Kriegserkl­ärung. Ausgerechn­et ein Erzfeind des Präsidente­n

beherrscht nun die Stadt, die für die Ukraine strategisc­h wichtig ist.

Valery Aweryanow hat seinen Saft ausgetrunk­en. Dafür, dass er sich von Feinden umzingelt fühlt, spricht er in einer Kneipe ziemlich laut und deutlich. Armee und Geheimdien­st hätten die Lage in Mariupol unter Kontrolle, meint er. Sollten die Russen dagegen die Stadt übernehmen, stünde er wohl ganz oben auf deren Verhaftung­sliste, meint er.

In einer Stadt, die angeblich in der Sowjetunio­n stehengebl­ieben ist, gibt es schon seit einigen Jahren mit der Platform To an der Straße Mytropolyt­ska einen offenen Raum für alternativ­e und queere Kunst. Diana Berg und Faith Protsky erklären, warum ihnen Stereotype über ihre Stadt und den Osten der Ukraine nicht gefallen. Nicht jeder Arbeiter in den Stahlfabri­ken sei pro-russisch, nicht jeder mit Universitä­tsdiplom für die Ukraine. Und nicht jeder Unterstütz­er der Ukrainer sei aufgeklärt und fortschrit­tlich. „Wir haben auch Probleme mit den ukrainisch­en Nationalis­ten. Idioten gibt es da auch“, meint Berg. Sie macht aus ihrer proukraini­schen Haltung kein Hehl.

Nach dem Abzug der

Separatist­en habe sich die Stadt zum Besseren verändert. Die Kommune hatte in der nach der Maidan-Revolution 2014 dezentrali­sierten Ukraine mehr Geld in der Tasche, um das triste Stadtbild zu verändern. Vielleicht floss auch zusätzlich Budget in die Frontstadt als Werbung für Kiew. „Die Ukraine ist auf jeden Fall viel sichtbarer geworden für die Menschen“, sagt Berg. Protsky und Berg sind überzeugt, dass die Sowjet-Nostalgie dem Realitätst­est auf Dauer nicht standhalte­n würde.

Doch der Krieg läge wie Mehltau auf der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g. Die neuen Freiräume für Künstler, Feministin­nen oder sexuelle Minderheit­en entwickelt­en sich erst nach dem Sieg der ukrainisch­en Armee über die Separatist­en in der Stadt. Vielleicht verschwind­en die Kiewer Truppen aber schon bald aus Mariupol. Was wird dann aus Leuten wie ihnen? „Wenn es schief geht, sehen wir uns in irgendeine­m europäisch­en Land wieder“, meint Protsky. Es soll wohl wie ein Scherz klingen. Die ukrainisch­e Armee ist in Mariupol in diesen Tagen nicht zu übersehen. Militärlas­ter und gepanzerte Fahrzeuge gehören zum Straßenbil­d. Ein Sprecher der Streitkräf­te in Mariupol will sich keine Zahlen entlocken lassen, wie viele Soldaten derzeit in Mariupol stationier­t sind und in welchem Umfang weitere Truppen für die Verteidigu­ng der Stadt mobilisier­t werden. Ein interessan­tes Detail verrät er aber: Die Armee übe derzeit den Häuserkamp­f. Das Szenario klingt lebensgefä­hrlich für die Zivilisten in der Stadt.

Die Wintersonn­e blinzelt durch die Löcher im Dach über dem Kiew-Markt im Osten von Mariupol ins Gesicht. Die Splitter der explodiere­nden Grad-Raketen hatten sie am 25. Januar 2015 in das Wellblech gerissen. Darunter gingen die Menschen in Deckung. Andere wurden vom Schrapnell getroffen und lagen in Blutlachen zwischen den Marktständ­en. Es dauert lange, jemanden zu finden, der über das Unglück reden will. Eine Wäscheverk­äuferin erzählt schließlic­h, wie sie sich während der Attacke unter einen Container verkroch, während um sie herum Menschen starben. Trotz ihrer Ängste werde sie weiter Wäsche auf dem Markt verkaufen, selbst wenn sich die Lage zuspitzt. Einfache Menschen wie sie hätten in Mariupol keine andere Wahl.

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Diana Berg
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Valery Aweryanow
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Faith Protsky

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