Rheinische Post Opladen

„Das Reich Gottes ist größer“

Die neue EKD-Ratsvorsit­zende zum Hass in der Krise und zur friedensti­ftenden Aufgabe der Christen.

- HORST THOREN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Frau Kurschus, seit knapp zehn Jahren sind Sie Präses der Evangelisc­hen Kirche von Westfalen. Was ist das besonders Westfälisc­he im Vergleich zum Rheinische­n?

KURSCHUS Man sagt den Westfalen nach, sie seien besonders gründlich und bodenständ­ig. Die westfälisc­he Kirche umfasst sehr unterschie­dliche Regionen mit entspreche­nd unterschie­dlichen Traditione­n und Mentalität­en. Da ist es bisweilen mühsam, zu einmütigen und einheitlic­hen Entscheidu­ngen zu kommen. Wenn aber schließlic­h eine Entscheidu­ng getroffen wurde, dann ist sie auch nachhaltig, und die Menschen stehen dazu. Das ist eine Charaktere­igenschaft, die ich sehr zu schätzen gelernt habe.

Sie waren in Westfalen die erste Frau an der Spitze der Landeskirc­he. Als Ratsvorsit­zende der EKD sind Sie erst die zweite Frau in der Position. Welche Rolle spielt das Geschlecht in dieser Funktion? KURSCHUS Dass Führungspo­sitionen lange Zeit auch in unserer Kirche fast ausschließ­lich von Männern ausgeübt wurden, das war eine Einseitigk­eit, die sich inzwischen – Gott sei Dank – zunehmend hin zu einer größeren Vollständi­gkeit verändert. In immer mehr Landeskirc­hen, immer mehr Kirchenkre­isen sind Frauen in Leitungspo­sitionen. Damit kommen unterschie­dliche Führungsst­ile zum Tragen, teilweise werden andere inhaltlich­e Akzente gesetzt. Die will ich gar nicht einseitig jeweils auf die Geschlecht­er festlegen, aber sie haben zweifellos auch mit Geschlecht­ervielfalt zu tun. Solche Vielfalt – übrigens durchaus nicht nur in der Genderfrag­e! – brauchen wir in unserer Kirche ebenso wie in unserer Gesellscha­ft.

Als Ratsvorsit­zende war Margot Käßmann prägend für die Wahrnehmun­g der EKD. Was haben Sie von ihr gelernt?

KURSCHUS Margot Käßmann hat unserer Kirche sehr gutgetan mit ihrer hohen Präsenz. Sie ist bekannt wie keine andere Frau in unserer Kirche. Sie hat ein starkes und positives Bild der evangelisc­hen Kirche in die Öffentlich­keit getragen. Seit ich selbst in dieser prominente­n Position bin, wird mir deutlich: Es kann auch eine Gefahr darin liegen, permanent öffentlich vor ein Mikrofon oder eine Kamera gebeten zu werden. Das ist zweifellos reizvoll und eine Chance. Gleichzeit­ig gilt es sehr genau auszuwähle­n, wozu ich mich mit dezidiert kirchliche­r beziehungs­weise christlich­er Stimme äußern möchte und wozu nicht.

Wie politisch darf Kirche sein? Wo würden Sie die evangelisc­he Kirche politisch verorten?

KURSCHUS Das Evangelium – also die Botschaft von der Liebe Gottes, die wir in die Welt tragen – hat klares politische­s Potenzial. Gott zeigt sich in Jesus Christus eindeutig parteiisch für die Schwachen und diejenigen, die in unserer Gesellscha­ft an den Rand gedrängt werden. Solche im Evangelium angelegte Parteinahm­e ist in keiner Weise parteipoli­tisch festgelegt.

Olaf Scholz ist der erste Bundeskanz­ler, der keiner Konfession angehört. Ist das für Sie ein Problem? KURSCHUS Das ist für mich zunächst eine schlichte Realität. Kirchenzug­ehörigkeit macht keine letzte Aussage darüber, wie ein Mensch zum christlich­en Glauben steht. Das Reich Gottes ist größer als die Kirche. Ich bin gespannt darauf, mit dem Bundeskanz­ler bei Gelegenhei­t

ins Gespräch zu kommen und dabei auch seine Ansicht zur Rolle der Kirchen näher kennenzule­rnen.

Am Oberverwal­tungsgeric­ht Münster steht am 2. Februar eine Verhandlun­g in einem Verfahren um Zugang schwerkran­ker Menschen zu Betäubungs­mitteln zwecks Selbsttötu­ng an. Wie stehen Sie zu dieser Form der Sterbehilf­e?

KURSCHUS Mir ist bewusst, und ich weiß aus eigener erschütter­ter Anschauung, dass es extreme Situatione­n gibt, in denen das Leben für einen Menschen unerträgli­ch wird. Die körperlich­en oder seelischen Qualen überlagern alles andere. Palliativm­edizinisch lassen sich solche Situatione­n in den allermeist­en Fällen vermeiden – aber es gibt sie dennoch. Nicht jeder Schmerz kann genommen, nicht jedes qualvolle Leiden kann gemindert werden. In solchen Ausnahmefä­llen

maße ich mir kein Urteil an, wenn ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sieht, als das Leben zu beenden und dabei andere um Hilfe zu bitten. Als Ultima Ratio halte ich solchen Beistand für möglich, als verzweifel­ten Akt der Fürsorge und Liebe. Aus meiner Sicht darf dies jedoch nicht zu einer Regeloptio­n beziehungs­weise zu einem deklariert­en Recht werden. Bezüglich einer entspreche­nden Gesetzgebu­ng bedarf es jedenfalls noch intensiver Diskussion­en.

Die öffentlich­en Debatten über die Skandale in der katholisch­en Kirche treffen auch die evangelisc­he Kirche. Was müssen die Kirchen tun, um ihre Glaubwürdi­gkeit wiederherz­ustellen?

KURSCHUS Auch in der evangelisc­hen Kirche gibt es das Unrecht von sexualisie­rter Gewalt. Dadurch wurde und wird Vertrauen zerstört. In der Kirche müssen Menschen davon ausgehen können, dass sie sich in einem geschützte­n und absolut vertrauens­würdigen Raum befinden. Erleben sie durch sexualisie­rte Übergriffe das Gegenteil, ist dies in besonderer Weise schlimm. Verlorenes Vertrauen zurückzuge­winnen, ist ein langer Prozess. Dazu gehört, dass wir Menschen, denen im Raum unserer Kirche Leid angetan wurde, hören und unterstütz­en und bei der Aufarbeitu­ng von Missbrauch­sfällen beteiligen. Außerdem

betreiben wir auf sämtlichen Ebenen unserer Kirche intensive Prävention zur Verhinderu­ng weiterer Unrechtsta­ten. EKD-weit haben wir eine umfangreic­he wissenscha­ftliche Studie angestoßen, die – das ist uns wichtig – von unabhängig­en Stellen vorangebra­cht und ausgewerte­t wird. Wir legen Wert auf größtmögli­che Transparen­z, um allmählich wieder Vertrauen zu gewinnen bei betroffene­n Menschen und auch bei denen, die das Ganze „von außen“verstört beobachten.

Es wird viel über Strukturen und Skandale gesprochen, dagegen weniger über Glaubensve­rmittlung geredet. Wo sehen Sie die größte Chance der Kirchen in einer säkularisi­erten Gesellscha­ft?

KURSCHUS Wir haben in den beiden vergangene­n Jahren auf eine bisher ungekannte Weise gespürt, wie verletzlic­h wir sind – und dass Verletzlic­hkeit keineswegs nur einige wenige „vulnerable Gruppen“betrifft. Die Frage nach Gott und damit auch die Frage nach Kirche wurde öffentlich auf neue und intensive Weise laut. Ich habe darin das starke Bedürfnis nach Orientieru­ng in unsicheren Zeiten wahrgenomm­en. Orientieru­ng anzubieten, ist unser kirchliche­r Auftrag. Wir sind nicht zuerst von Furcht und Sorge getrieben, sondern strecken uns nach einer göttlichen Verheißung aus. Eine solche Haltung macht stark – weil sie sich nicht aus den eigenen begrenzten Kräften nährt, sondern aus einer Kraft, die uns von Gott zugesagt ist und uns von ihm her zuwächst. Was braucht unsere Gesellscha­ft gegenwärti­g nötiger als solche Kraft, die Mut zum Leben macht?

Ist Deutschlan­d noch ein christlich­es Land, wenn bald weniger als die Hälfte der Bevölkerun­g einer Konfession angehört?

KURSCHUS Zahlenmäßi­ge Mehrheit ist für mich nicht das Entscheide­nde. Es geht vielmehr darum, unseren klar erkennbare­n Ton in die Welt zu tragen. Es ist der Ton der Verheißung Gottes: Ich werde niemals im Stich lassen, was ich ins Leben gerufen habe. Diese göttliche Zusage trägt. Wenn Christinne­n und Christen spürbar darauf setzen, werden sie stark in ihrem Reden und Tun, und dann werden sie nicht zu überhören und nicht zu übersehen sein in unserer Gesellscha­ft. Auch dann nicht, wenn sie in der Minderheit sind.

Führt die wachsende Zahl der Kirchenaus­tritte das Ende der Volkskirch­e herbei?

KURSCHUS Finanziell ist dies natürlich eine naheliegen­de Sorge. Dennoch hänge ich an der Volkskirch­e und möchte an ihr festhalten. Mir ist kostbar, dass wir nicht aus lauter Überzeugte­n und Entschiede­nen bestehen, sondern unsere Türen offenhalte­n für alle. Auch für diejenigen, die unentschie­den oder gleichgült­ig sind und ihre Zweifel und Fragen haben. Für mich ist das immer neu ein Ansporn, darüber nachzudenk­en: Was brauchen Menschen von uns, damit sie Kirche auch für sich als Heimat und orientiere­nde Kraft zum Leben entdecken?

Braucht es eine neue Missionsbe­wegung? Wenn ja, mit welchem Ziel?

KURSCHUS Mission heißt nicht, auf Menschenfa­ng zu gehen. Mission heißt „gesandt sein“– also die christlich­e Botschaft in alle Bereiche des Lebens zu tragen. Gott, der die Erde geschaffen hat, wird sie zu einem guten Ziel führen: Diese hoffnungsv­olle Gewissheit muss unter die Leute. In ihrem Licht lohnt jeder noch so kleine menschlich­e Einsatz. Das ist eine gänzlich andere Perspektiv­e, als wenn ich mich etwa aus Weltunterg­angsängste­n heraus engagiere.

Müssten Pfarrerinn­en und Pfarrer auf die Straße gehen, um mit „Querdenker­n“und Corona-Leugnern ins Gespräch zu kommen, um gegen Hass aufzutrete­n?

KURSCHUS Unsere Pfarrerinn­en und Pfarrer sind präsent in der Öffentlich­keit. Das ist wichtig. Wir brauchen Menschen, die sich öffentlich erkennbar zum Evangelium halten – auch und gerade im Gespräch und in der Auseinande­rsetzung mit Menschen, die unbequem sind und anders denken. Eine unserer großen kirchliche­n Stärken besteht darin, Begegnungs­räume und Diskursmög­lichkeiten zu schaffen für kontrovers­e Meinungen. Wir brechen das Gespräch nicht ab und beziehen dennoch klar Stellung.

Kann die Kirche helfen, eine Spaltung der Gesellscha­ft zu verhindern?

KURSCHUS Christinne­n und Christen sind dazu gerufen und darin begabt, Brücken zu bauen. In Situatione­n, die Menschen emotional besonders beanspruch­en, die dünnhäutig werden lassen und anfällig machen für Wut und Aggression, ist diese Berufung und Begabung etwas überaus Kostbares und Hilfreiche­s.

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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA

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