„Das Reich Gottes ist größer“
Die neue EKD-Ratsvorsitzende zum Hass in der Krise und zur friedenstiftenden Aufgabe der Christen.
Frau Kurschus, seit knapp zehn Jahren sind Sie Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. Was ist das besonders Westfälische im Vergleich zum Rheinischen?
KURSCHUS Man sagt den Westfalen nach, sie seien besonders gründlich und bodenständig. Die westfälische Kirche umfasst sehr unterschiedliche Regionen mit entsprechend unterschiedlichen Traditionen und Mentalitäten. Da ist es bisweilen mühsam, zu einmütigen und einheitlichen Entscheidungen zu kommen. Wenn aber schließlich eine Entscheidung getroffen wurde, dann ist sie auch nachhaltig, und die Menschen stehen dazu. Das ist eine Charaktereigenschaft, die ich sehr zu schätzen gelernt habe.
Sie waren in Westfalen die erste Frau an der Spitze der Landeskirche. Als Ratsvorsitzende der EKD sind Sie erst die zweite Frau in der Position. Welche Rolle spielt das Geschlecht in dieser Funktion? KURSCHUS Dass Führungspositionen lange Zeit auch in unserer Kirche fast ausschließlich von Männern ausgeübt wurden, das war eine Einseitigkeit, die sich inzwischen – Gott sei Dank – zunehmend hin zu einer größeren Vollständigkeit verändert. In immer mehr Landeskirchen, immer mehr Kirchenkreisen sind Frauen in Leitungspositionen. Damit kommen unterschiedliche Führungsstile zum Tragen, teilweise werden andere inhaltliche Akzente gesetzt. Die will ich gar nicht einseitig jeweils auf die Geschlechter festlegen, aber sie haben zweifellos auch mit Geschlechtervielfalt zu tun. Solche Vielfalt – übrigens durchaus nicht nur in der Genderfrage! – brauchen wir in unserer Kirche ebenso wie in unserer Gesellschaft.
Als Ratsvorsitzende war Margot Käßmann prägend für die Wahrnehmung der EKD. Was haben Sie von ihr gelernt?
KURSCHUS Margot Käßmann hat unserer Kirche sehr gutgetan mit ihrer hohen Präsenz. Sie ist bekannt wie keine andere Frau in unserer Kirche. Sie hat ein starkes und positives Bild der evangelischen Kirche in die Öffentlichkeit getragen. Seit ich selbst in dieser prominenten Position bin, wird mir deutlich: Es kann auch eine Gefahr darin liegen, permanent öffentlich vor ein Mikrofon oder eine Kamera gebeten zu werden. Das ist zweifellos reizvoll und eine Chance. Gleichzeitig gilt es sehr genau auszuwählen, wozu ich mich mit dezidiert kirchlicher beziehungsweise christlicher Stimme äußern möchte und wozu nicht.
Wie politisch darf Kirche sein? Wo würden Sie die evangelische Kirche politisch verorten?
KURSCHUS Das Evangelium – also die Botschaft von der Liebe Gottes, die wir in die Welt tragen – hat klares politisches Potenzial. Gott zeigt sich in Jesus Christus eindeutig parteiisch für die Schwachen und diejenigen, die in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Solche im Evangelium angelegte Parteinahme ist in keiner Weise parteipolitisch festgelegt.
Olaf Scholz ist der erste Bundeskanzler, der keiner Konfession angehört. Ist das für Sie ein Problem? KURSCHUS Das ist für mich zunächst eine schlichte Realität. Kirchenzugehörigkeit macht keine letzte Aussage darüber, wie ein Mensch zum christlichen Glauben steht. Das Reich Gottes ist größer als die Kirche. Ich bin gespannt darauf, mit dem Bundeskanzler bei Gelegenheit
ins Gespräch zu kommen und dabei auch seine Ansicht zur Rolle der Kirchen näher kennenzulernen.
Am Oberverwaltungsgericht Münster steht am 2. Februar eine Verhandlung in einem Verfahren um Zugang schwerkranker Menschen zu Betäubungsmitteln zwecks Selbsttötung an. Wie stehen Sie zu dieser Form der Sterbehilfe?
KURSCHUS Mir ist bewusst, und ich weiß aus eigener erschütterter Anschauung, dass es extreme Situationen gibt, in denen das Leben für einen Menschen unerträglich wird. Die körperlichen oder seelischen Qualen überlagern alles andere. Palliativmedizinisch lassen sich solche Situationen in den allermeisten Fällen vermeiden – aber es gibt sie dennoch. Nicht jeder Schmerz kann genommen, nicht jedes qualvolle Leiden kann gemindert werden. In solchen Ausnahmefällen
maße ich mir kein Urteil an, wenn ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sieht, als das Leben zu beenden und dabei andere um Hilfe zu bitten. Als Ultima Ratio halte ich solchen Beistand für möglich, als verzweifelten Akt der Fürsorge und Liebe. Aus meiner Sicht darf dies jedoch nicht zu einer Regeloption beziehungsweise zu einem deklarierten Recht werden. Bezüglich einer entsprechenden Gesetzgebung bedarf es jedenfalls noch intensiver Diskussionen.
Die öffentlichen Debatten über die Skandale in der katholischen Kirche treffen auch die evangelische Kirche. Was müssen die Kirchen tun, um ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen?
KURSCHUS Auch in der evangelischen Kirche gibt es das Unrecht von sexualisierter Gewalt. Dadurch wurde und wird Vertrauen zerstört. In der Kirche müssen Menschen davon ausgehen können, dass sie sich in einem geschützten und absolut vertrauenswürdigen Raum befinden. Erleben sie durch sexualisierte Übergriffe das Gegenteil, ist dies in besonderer Weise schlimm. Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, ist ein langer Prozess. Dazu gehört, dass wir Menschen, denen im Raum unserer Kirche Leid angetan wurde, hören und unterstützen und bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen beteiligen. Außerdem
betreiben wir auf sämtlichen Ebenen unserer Kirche intensive Prävention zur Verhinderung weiterer Unrechtstaten. EKD-weit haben wir eine umfangreiche wissenschaftliche Studie angestoßen, die – das ist uns wichtig – von unabhängigen Stellen vorangebracht und ausgewertet wird. Wir legen Wert auf größtmögliche Transparenz, um allmählich wieder Vertrauen zu gewinnen bei betroffenen Menschen und auch bei denen, die das Ganze „von außen“verstört beobachten.
Es wird viel über Strukturen und Skandale gesprochen, dagegen weniger über Glaubensvermittlung geredet. Wo sehen Sie die größte Chance der Kirchen in einer säkularisierten Gesellschaft?
KURSCHUS Wir haben in den beiden vergangenen Jahren auf eine bisher ungekannte Weise gespürt, wie verletzlich wir sind – und dass Verletzlichkeit keineswegs nur einige wenige „vulnerable Gruppen“betrifft. Die Frage nach Gott und damit auch die Frage nach Kirche wurde öffentlich auf neue und intensive Weise laut. Ich habe darin das starke Bedürfnis nach Orientierung in unsicheren Zeiten wahrgenommen. Orientierung anzubieten, ist unser kirchlicher Auftrag. Wir sind nicht zuerst von Furcht und Sorge getrieben, sondern strecken uns nach einer göttlichen Verheißung aus. Eine solche Haltung macht stark – weil sie sich nicht aus den eigenen begrenzten Kräften nährt, sondern aus einer Kraft, die uns von Gott zugesagt ist und uns von ihm her zuwächst. Was braucht unsere Gesellschaft gegenwärtig nötiger als solche Kraft, die Mut zum Leben macht?
Ist Deutschland noch ein christliches Land, wenn bald weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer Konfession angehört?
KURSCHUS Zahlenmäßige Mehrheit ist für mich nicht das Entscheidende. Es geht vielmehr darum, unseren klar erkennbaren Ton in die Welt zu tragen. Es ist der Ton der Verheißung Gottes: Ich werde niemals im Stich lassen, was ich ins Leben gerufen habe. Diese göttliche Zusage trägt. Wenn Christinnen und Christen spürbar darauf setzen, werden sie stark in ihrem Reden und Tun, und dann werden sie nicht zu überhören und nicht zu übersehen sein in unserer Gesellschaft. Auch dann nicht, wenn sie in der Minderheit sind.
Führt die wachsende Zahl der Kirchenaustritte das Ende der Volkskirche herbei?
KURSCHUS Finanziell ist dies natürlich eine naheliegende Sorge. Dennoch hänge ich an der Volkskirche und möchte an ihr festhalten. Mir ist kostbar, dass wir nicht aus lauter Überzeugten und Entschiedenen bestehen, sondern unsere Türen offenhalten für alle. Auch für diejenigen, die unentschieden oder gleichgültig sind und ihre Zweifel und Fragen haben. Für mich ist das immer neu ein Ansporn, darüber nachzudenken: Was brauchen Menschen von uns, damit sie Kirche auch für sich als Heimat und orientierende Kraft zum Leben entdecken?
Braucht es eine neue Missionsbewegung? Wenn ja, mit welchem Ziel?
KURSCHUS Mission heißt nicht, auf Menschenfang zu gehen. Mission heißt „gesandt sein“– also die christliche Botschaft in alle Bereiche des Lebens zu tragen. Gott, der die Erde geschaffen hat, wird sie zu einem guten Ziel führen: Diese hoffnungsvolle Gewissheit muss unter die Leute. In ihrem Licht lohnt jeder noch so kleine menschliche Einsatz. Das ist eine gänzlich andere Perspektive, als wenn ich mich etwa aus Weltuntergangsängsten heraus engagiere.
Müssten Pfarrerinnen und Pfarrer auf die Straße gehen, um mit „Querdenkern“und Corona-Leugnern ins Gespräch zu kommen, um gegen Hass aufzutreten?
KURSCHUS Unsere Pfarrerinnen und Pfarrer sind präsent in der Öffentlichkeit. Das ist wichtig. Wir brauchen Menschen, die sich öffentlich erkennbar zum Evangelium halten – auch und gerade im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit Menschen, die unbequem sind und anders denken. Eine unserer großen kirchlichen Stärken besteht darin, Begegnungsräume und Diskursmöglichkeiten zu schaffen für kontroverse Meinungen. Wir brechen das Gespräch nicht ab und beziehen dennoch klar Stellung.
Kann die Kirche helfen, eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern?
KURSCHUS Christinnen und Christen sind dazu gerufen und darin begabt, Brücken zu bauen. In Situationen, die Menschen emotional besonders beanspruchen, die dünnhäutig werden lassen und anfällig machen für Wut und Aggression, ist diese Berufung und Begabung etwas überaus Kostbares und Hilfreiches.