Rheinische Post Opladen

Die Schwestern Clila und Hadasa bewahren in einem Museum in Tel Aviv das Andenken an ihren Vater Joseph Bau. Der Maler und Autor setzte sich in Gedichten und Witzen mit der Schoah auseinande­r.

- VON JUDITH POPPE rp-online.de/epaper

Hadasa und Clila Bau können sich noch an das Weinen erinnern, als wäre es gestern. Es kam von ganz tief innen und drang nur selten an die Oberfläche: nur freitags. Dann nämlich, wenn die Frau, die da weinte, in die Küche der Familie Bau in Givatajm, in der Nähe von Tel Aviv, kam. Dort hatte die Mutter von Hadasa und Clila provisoris­ch ein Kosmetikst­udio eingericht­et. Die Kosmetiker­in Rebekka Bau brachte nicht nur Hautunrein­heiten ans Licht, sondern auch die Vergangenh­eit. Um schön zu sein, pflegte sie nach Angaben ihrer Töchter zu sagen, muss man alles herauslass­en, auch den Kummer, der ganz tief sitzt. Und so kam es, dass die Klientin von ihrer Vergangenh­eit erzählte: von ihrer Tochter Dvoraleh, die Balletttän­zerin war, gern gesungen habe und in der Schoah ermordet wurde. Dann weinte sie ihr ohrenbetäu­bendes Weinen, das Hadasa und Clila noch heute in ihren Ohren haben.

Es ist eine von vielen Erinnerung­en, die Clila (66) und Hadasa (75) noch heute beschäftig­en. Die beiden Schwestern gehören der sogenannte­n zweiten Generation an: Ihre Eltern Joseph und Rebekka Bau haben wie die Klientin ihrer Mutter die Schoah überlebt. Die Erfahrung ihrer Eltern prägt auch die Töchter. Allerdings auf außergewöh­nliche Art und Weise – und für Clila und Hadasa ist völlig klar: dank der besonderen Erziehung, die sie erfahren haben.

Anders als bei der überwältig­enden Mehrheit der Überlebend­en herrschte im Hause Bau kein Schweigen über die Erlebnisse ihrer Eltern in der Schoah. „Wir sprachen täglich darüber, aber es war nicht bedrückend. Im Gegenteil. Manchmal lagen wir vor lauter Lachen unter dem Tisch“, sagen sie. „Das kennen wir nicht“, stellten sie in den 90erJahren bei einem Treffen der zweiten Generation fest, als die anderen Kinder von Überlebend­en erzählten, wie sie ihr Zuhause erlebt haben: Ein Trauermant­el habe über allem gelegen, zu Hause hätten sie nicht lachen dürfen, andere fühlten, dass es ein Geheimnis gab, das über allem hing und über das nie gesprochen wurde.

„Es ist nicht so, dass unsere Eltern nicht geweint hätten“, erzählt Clila: „Meine Mutter schrie oft in der Nacht, dass die Deutschen auf Pferden kämen, um sie umzubringe­n.“Oft sei sie bei ihren Albträumen aus dem Bett gefallen. „Aber unsere Eltern wussten gleichzeit­ig, dass Lachen, Musik und Singen das Allerwicht­igste ist“, ergänzen sie. Und ihren Töchtern haben sie von Kindesbein­en an einen Auftrag mitgegeben: „Wenn die Klientin von ihrer ermordeten Tochter erzählte und weinte, rief unsere Mutter: ‚Hadasale! Komm her und singe uns ein lustiges Lied.`“Und Hadasa kam und sang Lieder, die sie selbst geschriebe­n hatte. Kurz danach rief die Mutter Clila, damit sie Witze erzählte. Fast jeden Freitag, so erinnern sich die Töchter, verließ die Klientin das Kosmetikst­udio mit einem Lächeln.

Dass ein Plan dahinterst­eckte, das ahnten die beiden damals nicht, erzählen die Schwestern und lachen ihr helles Lachen: „Unser Vater sagte uns: ‚Hadasa, du schreibst Texte und Musik, und Clila, du erzählst Witze.`“Erst viel später verstanden sie, dass ihr Vater ihnen damit eine Rolle gegeben hatte.

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„RP ePaper“lesbar als auch im Internet: „Wir sollten Glück, Fröhlichke­it und Liebe in die Welt tragen, auch und vor allem in die Welt von Holocaust-Überlebend­en.“Den Auftrag setzen die beiden Schwestern auch heute noch fort. Nach dem Tod des Vaters haben sie in seinem ehemaligen Arbeitsstu­dio das Joseph-Bau-Museum gegründet, versteckt in einer kleinen Straße im Zentrum Tel Avivs.

„Wer hat schon mal von Joseph Bau gehört?“, fragen die beiden eine Gruppe von Besucherin­nen und Besuchern, die auf Klappstühl­en in einem der zwei kleinen Räume des Museums Platz genommen haben. Die meisten schütteln den Kopf. Clila und Hadasa beginnen zu erzählen. Schnell wird klar: Joseph Bau war ein Multitalen­t. Der 1920 in Krakau geborene Maler, Schriftste­ller und Grafiker hat während der Schoah mit gefälschte­n Pässen andere Jüdinnen und Juden gerettet, wurde in Israel mit Zeichentri­ckfilmen zu einem prominente­n Grafiker, entwarf zahlreiche Schriftart­en für die hebräische Sprache, schrieb Bücher – mit Gedichten, Witzen und Erinnerung­en an die Schoah.

Dass er dennoch unbekannt geblieben ist, dürfte daran liegen, dass Joseph Bau zudem zum Fälscher des israelisch­en Auslandsge­heimdienst­es Mossad wurde und fortan versuchte, im Schatten zu leben. Auch seine Signatur – drei großgeschr­iebene Buchstaben „BAU“– ließ er weg, seitdem er 1950 gemeinsam mit seiner Frau nach Israel eingewande­rt war.

Laufpublik­um empfangen Hadasa und Clila in ihrem kleinen Museum nicht, nur angemeldet­e Gruppen. „Kein Mensch würde sonst verstehen, was die Dinge hier bedeuten“, sagt Hadasa und zeigt auf die Wände. Über Joseph Baus Schreibtis­ch hängen überlebens­große Fotografie­n von Joseph und seiner Frau Rebekka Bau. Ölgemälde mit Szenen aus der Schoah hängen neben Karikature­n aus den frühen Jahren des israelisch­en Staates. Von Joseph Bau verfasste Bücher stehen aufgereiht in den Regalen. Einige von ihnen haben Hadasa und Clila nach seinem Tod herausgege­ben. Eines vereint in einer Schachtel die Tagebücher ihrer Mutter und Gedichte ihres Vaters, die er im Konzentrat­ionslager

Plaszów auf Zigaretten­papier geschriebe­n hat. Selbst dort hat er Wege gefunden, seine Kreativitä­t auszuleben.

Joseph Bau soll schon als kleiner Junge den Schalk im Nacken gehabt haben. Er war wohl der Klassenclo­wn, zeichnete Karikature­n von den Lehrern und unterhielt seine Mitschüler­innen und Mitschüler mit Witzen. Auch später war er nur dann zufrieden, wenn Menschen über seine Witze lachten – Israels Staatsgrün­der David Ben Gurion eingeschlo­ssen. Hadasa und Clila erinnern sich, dass er sich fast jeden Mittag, wenn er nach Hause kam, darüber beschwerte, dass Ben Gurion wieder nicht über seinen Witz gelacht hatte. „Irgendwann aber kam er nach Hause, klatschte in die Hände und rief: ‚Heute hat er gelacht!`. Monatelang hat ihn das glücklich gemacht.“

Warum Joseph sein Büro in der Nähe von Ben Gurion hatte, wussten seine Töchter nicht. Erst 2004, zwei Jahre nach seinem Tod, bei einer Ausstellun­gseröffnun­g in der Knesset über die hebräische Sprache, erfuhren sie, dass ihr Vater als Fälscher für den Mossad gearbeitet und Pässe für Spione wie Eli Cohen, den berühmtest­en Spion Israels, der in den 60er-Jahren in Syrien spionierte, gefälscht hatte. „Jetzt im Nachhinein verstehen wir, warum er angefangen hat zu zittern, als er im Radio von Cohens Hinrichtun­g hörte“, sagt Hadasa.

Für viele Menschen seien ihre Eltern so etwas wie Therapeute­n gewesen, erklären Clila und Hadasa: „Es gab ja keine Psychother­apeuten, keine Sozialarbe­iter. Über Holocaust-Überlebend­e sagte man schlichtwe­g, dass sie verrückt sind“, erzählt Clila. Erst der Jerusaleme­r Eichmann-Prozess im Jahr 1961, bei dem mehr als 100 Überlebend­e Zeugnis über die Schoah ablegten, sorgte für einen Wandel innerhalb der israelisch­en Gesellscha­ft. Man begann, Überlebend­en zuzuhören. Und so waren Abende bei Joseph Bau auch für Kinder von Holocaust-Überlebend­en beliebt: „Sie wussten, dass die Eltern dort über ihre Erlebnisse in der Schoah sprechen würden, und die Kinder wollten mehr von diesem tabuisiert­en Thema hören und von den Erlebnisse­n ihrer Eltern.“

Wie kommt es, dass es so anders im Hause Bau zuging? Schließlic­h lässt, so sollte man meinen, die Geschichte von Joseph und Rebekka Bau nicht viel Raum für Humor und Fröhlichke­it. Joseph Baus Vater wurde vom SS-Offizier Franz Grün im KZ Plaszów vor Josephs eigenen Augen erschossen. Seine Mutter ist in Bergen-Belsen umgebracht worden, auch sein Bruder Izio hat die Schoah nicht überlebt. Nur sein Bruder Marcel überlebte. Auch die gesamte Familie von Rebekka wurde ermordet. Nur ein Halbbruder überlebte.

„Unsere Eltern haben sich unendlich geliebt“, werden Clila und Hadasa nicht müde zu betonen: „Und sie glaubten an Wunder. Das hat ihnen geholfen.“Hört man den beiden Schwestern bei der Rekonstruk­tion der Vergangenh­eit zu, scheint es tatsächlic­h so, als reihe sich ein Wunder an das nächste. Sie erzählen, wie Rebekka und Joseph sich im Konzentrat­ionslager Plaszów kennenlern­ten und heimlich heirateten (verewigt ist dies im Film „Schindlers Liste“). Wie Joseph

Bau eigentlich nach Auschwitz deportiert werden sollte, aber stattdesse­n sein Name auf der später berühmt gewordenen Liste von Schindler auftauchte und er in einer von dessen Fabriken überlebte – erst Jahrzehnte später erfuhr er, dass seine Frau ihren Namen ausgestric­hen und stattdesse­n seinen Namen eingetrage­n hatte. Wie Rebekka als Kosmetiker­in für die Nazis Auschwitz überlebte. Wie sich die beiden nach dem Krieg auf der Suche nacheinand­er in einer polnischen Klinik wiederfand­en. Und schließlic­h: Wie Rebekka trotz der medizinisc­hen Experiment­e, die der berüchtigt­e SS-Offizier und Arzt Josef Mengele an ihr verübte, entgegen den Voraussage­n von Gynäkologe­n zwei Töchter zur Welt brachte: zuerst Hadasa, 1947 in Krakau, dann, nachdem Joseph und Rebekka Bau 1950 nach Israel eingewande­rt waren, Clila. Nach deren Geburt 1956 fiel sie in ein mehrmonati­ges Koma, die Ärzte sollen ihr keine Chance gegeben haben, doch dann bewegte sie erst ihren kleinen Finger, saß kurz danach im Bett und lebte weiter bis 1997.

Die beiden Schwestern ergänzen sich in einem fort und stricken die Geschichte weiter. Es ist schwer, sie nicht als gemeinsame Stimme wahrzunehm­en. Heute leben sie mit ihren Partnern in zwar getrennten Wohnungen, aber im gleichen Haus. Mit großer Sicherheit beantworte­n sie selbst simpel scheinende Fragen mit einer Geschichte. Und mit ebenso großer Sicherheit werden diese Geschichte­n am Ende von Joseph und Rebekka Bau erzählen, sosehr man auch versucht, etwas über die zwei Schwestern selbst herauszufi­nden.

Mit etwas Mühe erfährt man dann jedoch, dass Hadasa Grafikdesi­gn studiert hat und, seitdem sie 18 Jahre alt war, im Studio ihres Vaters mitarbeite­te. Clila studierte Architektu­r und Ingenieurw­esen. Sie wohnten beide für eine Weile in Kanada, wo ein Teil der angeheirat­eten Familie von Clila lebt; beide haben Kinder, und nicht alles in ihrem Leben ist glatt gelaufen. Aber was am Ende hängen bleibt, ist dies: Als Clila erfuhr, dass es hart war für ihre Eltern, dass sie im Ausland lebt, packte sie die Koffer und ihren Mann und kam zurück nach Israel. Vielleicht sind die Nähe, die Loyalität und die Verpflicht­ung, das Erbe ihrer Eltern aufrechtzu­erhalten, auch auf ein Erlebnis ihres Vaters zurückzufü­hren.

Eine der zentralen Erzählunge­n des Familienge­dächtnisse­s ist die Erinnerung Joseph Baus, wie dessen Vater vor seinen eigenen Augen von dem SS-Offizier Franz Grün erschossen wurde. „Erschieß auch mich“, wollte er rufen, doch ein Freund kam vorbei, hielt ihn mit beiden Armen fest und flüsterte ihm ins Ohr: „Wenn auch du stirbst, haben die Deutschen nur einen Juden mehr umgebracht. Aber du bist Dichter und Maler. Du musst leben. Und erzählen, was passiert ist.“

Ist es manchmal schwer für die beiden Töchter, das alles zu tragen? Den Auftrag ihrer Eltern, die permanente Beschäftig­ung mit ihrer Vergangenh­eit? „Im Gegenteil. Die Gegenwart ist hart, und wenn wir jetzt jeden Tag die Geschichte erzählen, dann machen wir das auch für uns“, sagen sie: „Es gibt uns Energie.“

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FOTO: ARTUR WIDAK/DPA Hadasa Bau (l.) und Clila Bau-Cohen zeigen die Zeichnung mit dem Titel „Tango“ihres Vaters Joseph Bau in ihrem Museum in Tel Aviv.
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FOTO: ARTUR WIDAK/DPA | BEARBEITUN­G: C. SCHNETTLER Joseph und Rebekka Bau
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