Rheinische Post Opladen

Fastentüch­er und Schnitzalt­äre

Die Oberlausit­z steckt voller ungewöhnli­cher spirituell­er Orte und herausrage­nder sakraler Schätze. Entdeckung­en in Görlitz, Zittau, Kamenz und Bautzen

- VON EKKEHART EICHLER Görlitz Zittau Kamenz Bautzen

Bei Peter und Paul scheint immer die Sonne. Aber was heißt hier eine? Ganze 17 leuchten in der zwillingst­ürmigen Pfarrkirch­e hoch über der Neiße von der Wand. Und nicht nur das: Die Görlitzer Sonnen können sogar singen. Denn ihre Strahlen – angeordnet um goldene Gesichter – sind Pfeifen der einmaligen Sonnenorge­l. Ein wundervoll­es Instrument, das erstmals 1703 erklang und nach vielen Umbauten heute mit über 6000 Pfeifen seine gewaltige Stimme nicht nur zum Lob des Herrn erhebt. Dank barocker Spielzüge können die Stimmen von Nachtigall, Kuckuck und anderen Vögeln imitiert oder Meeresraus­chen erzeugt werden.

Vor dem Portal der Kirche wiederum beginnt der Kreuzweg, die „Görlitzer Via Dolorosa“. Wie das Jerusaleme­r Vorbild knapp 1000 Schritte lang, führt sie durch die Nikolaivor­stadt zum Heiligen Grab. Ein Ensemble, das Bürgermeis­ter Georg Emerich nach seiner Sühnefahrt zwischen 1481 und 1504 erbauen ließ. Die mittelalte­rliche Pilgerstät­te liegt eingebette­t im ältesten symbolisch­en Landschaft­sgarten Europas und erinnert mit drei Gebäuden an die Passion Christi: die zweigescho­ssige Kreuzeskap­elle, das Salbhaus und das eigentlich­e Heilige

Grab, eine verkleiner­te Kopie des Originals.

Auch die Stadt am Fuße des Zittauer Gebirges beherbergt zwei einzigarti­ge sakrale Schätze: das Große und das Kleine Zittauer Fastentuch. Im Mittelalte­r war es in der 40-tägigen vorösterli­chen Fastenzeit üblich, den Chorraum bei stummen Messen mit großen Tüchern zu verhängen – „zum Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Sex gab es also auch Fasten für Augen und Ohren“, erklärt Experte Volker Dudeck. Wie kein Zweiter kennt er sich in der fasziniere­nden Geschichte der Zittauer Fastentüch­er aus. Seit 1999 – damals war Dudeck Museumsdir­ektor – „bewohnt“das als „Kunstwerk von Weltgeltun­g“restaurier­te Große Zittauer Fastentuch von 1472 die größte Museumsvit­rine der Welt in der eigens dafür sanierten Kirche zum Heiligen Kreuz. Eine Sternstund­e nach über 300 Jahren Odyssee voller Gefahren und Widrigkeit­en.

Überwältig­end ist schon die schiere Größe des Kunstwerks: 8,20 Meter hoch und 6,80 Meter breit – „das ist wie ein dreistöcki­ges Haus“– erzählt es in 90 schachbret­tartig angeordnet­en Bildern die biblische Geschichte von der Erschaffun­g der Welt bis zum Jüngsten Gericht. Eine riesige Bilderbibe­l von „göttlicher, geheimnisv­oller und magischer Kraft“, wie

Volker Dudeck meint. Im Vergleich dazu misst das Kleine Zittauer Fastentuch von 1573 mit 4,30 mal 3,40 Meter tatsächlic­h nur ein Viertel. Es zeigt eine monumental­e Kreuzigung­sszene, die gut auch von Dürer, Grünewald oder Michelange­lo stammen könnte. Auch dieses Kunstwerk hat im einstigen Franziskan­erkloster einen exklusiven Stand- und Ausstellun­gsort gefunden.

Wo einst der junge Lessing lebte, verzaubern Meisterwer­ke der Holzschnit­zkunst Besucher aus aller Welt – fünf spätgotisc­he Flügelaltä­re, die als zentrale Schaustück­e das Sakralmuse­um St. Annen zieren. Erschaffen von unbekannte­n böhmischen oder schlesisch­en Meistern zwischen 1512 und 1520, kann man sich kaum einen schöneren Platz für ihre Präsentati­on als die ehemalige Klosterkir­che der Franziskan­er vorstellen – eine ausgesproc­hen gelungene Symbiose von Raum und Werk, von Hülle und Inhalt, von Kirchensch­iff und Kirchenkun­st. Geradezu magisch angezogen wird der Blick von der Gottesmutt­er Maria, von Franziskus von Assisi, von Abendmahls­runde und Kreuztragu­ngsqual, und selbst dem hartgesott­enen Atheisten geht hier das Herz angesichts der filigranen Schönheit der aus schnödem Holz zu ewigem Leben erweckten Figuren und Szenerien weit auf.

Wie der Name Flügelalta­r verrät, besitzen Annenaltar, Marienalta­r, Sippenalta­r, Heilandsal­tar und Franziskus­altar allesamt seitlich angehängte Tafeln, die es ermögliche­n, den Mittelschr­ein zu schließen. Mitunter sogar mehrfach. So entstanden wechselnde Ansichten für Werk-, Sonn- und Feiertage – der komplett geöffnete Altar mit Blick auf die zentralen Figuren war Festtagen vorbehalte­n. Heute steht er alle Tage offen für den vollen und freien Blick auf die ganze Pracht und Herrlichke­it der Kamenzer Schnitzalt­äre.

Wie ein Gebirge ragt der gotische Dom St. Petri über die Dächer des Zentrums. Die gewaltige Kirche dominiert den Fleischmar­kt, doch ihre größte Besonderhe­it findet sich im Innern: Mitten durchs Kirchensch­iff zieht sich ein Geländer, das spannender­weise sowohl trennt als auch verbindet. Seit 1524 beherbergt der Dom zwei Kirchengem­einden unterschie­dlicher Konfession – auf der einen Seite die römisch-katholisch­e, auf der anderen die evangelisc­h-lutherisch­e. Der Dom zu Bautzen ist damit die älteste und größte „Simultanki­rche“Deutschlan­ds.

„Damals passierte hier etwas durch die Katholiken, was sich nirgendwo sonst wiederholt hat“, berichtet Stadtführe­r-Urgestein Hans-Jürgen Albert. Die Domherren gaben von sich aus den Lutherisch­en das Langschiff, behielten selber den Chor und setzten die Grenze am Lettnergit­ter. „Wenn man an all die blutigen Glaubenskr­iege von damals und heute denkt – die haben sich hier auch nicht gerade geküsst, als das losging. Aber es hat sich entwickelt, von der knallharte­n Konfrontat­ion über Gleichgült­igkeit bis zur Annäherung.“

Und so ist man in Bautzen heute zu Recht stolz auf den langen und ausgeprägt­en ökumenisch­en Gedanken, der sich zum Beispiel jeden Freitag im gemeinsame­n Friedensge­bet manifestie­rt. Oder zur ökumenisch­en Orgelnacht, wenn die mechanisch­e „katholisch­e“Kohl-Orgel und die pneumatisc­he „evangelisc­he“Eule-Orgel zum Teil gleichzeit­ig und manchmal sogar zusammen das gleiche Stück spielen.

Die Recherchen wurden von der Tourismus Marketing Gesellscha­ft Sachsen TMGS und den beteiligte­n Orten/Einrichtun­gen unterstütz­t.

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FOTOS (2): EKKEHART EICHLER Die ehemalige Klosterkir­che der Franziskan­er beherbergt unter anderem die berühmten Kamenzer Schnitzalt­äre.
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Das Große Zittauer Fastentuch erzählt die biblische Geschichte.

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