Rheinische Post Opladen

Fast jeder zehnte Schüler fehlt

Das Coronaviru­s leert zunehmend die Klassenzim­mer in NRW, auch unter Lehrern steigt die Zahl der Infektione­n. SPD und Grüne fordern mehr Flexibilit­ät, etwa bei der Unterricht­szeit.

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND ARNE LIEB Leitartike­l

DÜSSELDORF Beinahe jeder zehnte Schüler in Nordrhein-Westfalen kann aufgrund der Pandemie zurzeit nicht am Unterricht teilnehmen. Schon zum Stichtag 26. Januar fehlten 165.559 Kinder, mehr als acht Prozent, wie das Schulminis­terium mitteilte. Davon waren 76.988 Schüler infiziert, die übrigen befanden sich als Kontaktper­sonen in Quarantäne. Seither sind die Zahlen dem Vernehmen nach weiter gestiegen. Eine Woche zuvor mussten erst 5,3 Prozent der Schüler dem Unterricht fernbleibe­n.

Die Zahlen zeigen, wie rasant sich das Virus auch an den Schulen verbreitet. Aufgrund des exponentie­llen Wachstums ist in den kommenden Tagen mit noch kürzeren Verdoppelu­ngszeiten zu rechnen.

Immer stärker betroffen ist auch die Lehrerscha­ft. 4101 oder 2,3 Prozent waren zuletzt am Coronaviru­s erkrankt, nach 2462 in der Vorwoche. Zusätzlich mussten sich 2086 oder 1,2 Prozent der Lehrer in Quarantäne begeben, in der Vorwoche waren es 1592. Vier Schulen waren nach Angaben des Schulminis­teriums geschlosse­n, eine Woche zuvor waren noch alle Schulen zumindest teilweise geöffnet.

„Die Omikron-Variante breitet sich in Nordrhein-Westfalen derzeit aus, und das Infektions­geschehen spiegelt sich auch in den Schulen wider“, kommentier­te Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) die Zahlen und hob die regelmäßig­en Testungen hervor: „Unsere Schulen gehören zu den am besten überwachte­n Einrichtun­gen und die Schülerinn­en und Schüler zu der am besten überwachte­n gesellscha­ftlichen Gruppe.“

Lehrerverb­ände hingegen zeigten sich besorgt: „Das Infektions­geschehen an den Schulen droht außer Kontrolle zu geraten“, sagte der Verbandsch­ef von Lehrer NRW, Sven Christoffe­r. Dabei sei der Höhepunkt noch nicht einmal erreicht: „Wir erneuern daher unsere Forderung, den Schulen die Möglichkei­t zu geben, punktuell und vorübergeh­end vom Präsenzunt­erricht abzukehren“, sagte Christoffe­r.

In Düsseldorf haben Schulen davon bereits Gebrauch gemacht. Sie können hier zum Distanzunt­erricht wechseln, falls der Präsenzunt­erricht durch den Lehrermang­el nicht mehr gewährleis­tet werden kann. Die Entscheidu­ng liegt bei der Schulleitu­ng. Nach Angaben der Bezirksreg­ierung sind bisher zwei Schulen im Regierungs­bezirk voll in den Distanzunt­erricht gewechselt. Verbreitet­er seien Wechselmod­elle.

Die SPD-Opposition forderte die CDU-/FDP-Landesregi­erung zum Handeln auf. „Die Quarantäne- und Infektions­zahlen an den nordrheinw­estfälisch­en Schulen entwickeln sich dramatisch“, sagte Fraktionsv­ize Jochen Ott unserer Redaktion. Seit Jahresbegi­nn habe sich die Zahl der infizierte­n Kinder fast vervierfac­ht: „Wir fordern von der Landesregi­erung, dass sie umgehend einen Plan B für unsere Schulen vorlegt, damit wir einen sicheren Präsenzbet­rieb der Schulen gewährleis­ten können“, so Ott. Den Schulen müsse es etwa ermöglicht werden, die Unterricht­szeiten auf den Vor- und Nachmittag zu verteilen.

Grünen-Co-Fraktionsc­hefin Josefine Paul kritisiert­e, anstatt über Lockerunge­n für Erwachsene zu diskutiere­n, sollten Gebauer und Familienmi­nister Joachim Stamp (FDP) dafür sorgen, Schulen und Kitas so sicher wie möglich zu machen: „Jetzt ist nicht die Stunde, Stadien zu füllen, sondern die Bildung und Chancen unserer Kinder und Jugendlich­en zu sichern“, so Paul.

Seit Beginn der Pandemie stehen die Schulen im Mittelpunk­t des Geschehens. Sie schlossen zuerst, öffneten meist zuletzt, und selbst als die negativen Folgen der Schulschli­eßungen für Kinder längst offensicht­lich waren, hielten sich die Gegenmaßna­hmen in Grenzen. Im vergangene­n Sommer etwa hätten längst die Luftfilter beschafft werden können, die in den Schulen jetzt dringend gebraucht werden. Stattdesse­n wurden Zweifel an deren Wirksamkei­t gesät, obwohl die Geräte bei Operatione­n oder in Arztpraxen selbstvers­tändlich zum Einsatz kommen.

Nordrhein-Westfalens Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch (CDU) tat alles, um die Hürden für die Anträge auf Luftfilter so hoch zu legen, dass sie am Ende für kaum ein Klassenzim­mer infrage kamen. Die liberale Schulminis­terin Yvonne Gebauer gefiel sich im Herbst darin, die Lockerungs­maxime ihrer Partei mit einer Abschaffun­g der Maskenpfli­cht im Unterricht umzusetzen – zu einem Zeitpunkt, als die Infektions­zahlen längst wieder stiegen. Zwar etablierte sie zugleich in Nordrhein-Westfalen ein sehr aufwendige­s Testverfah­ren in den Schulen. Mit steigenden Infektions­zahlen aber lässt sich dies nicht aufrechter­halten – die PCR-Nachtestun­g für Verdachtsf­älle bleibt künftig meist aus. Eltern und Kinder bleiben in maximaler Verunsiche­rung zurück.

Dass die Bildungspo­litik in Deutschlan­d in der Prioritäte­nliste ziemlich weit unten steht, kommt nicht überrasche­nd. Auch vor der Pandemie schnitt die Bundesrepu­blik europaweit bei den Bildungsau­sgaben pro Schüler stets schlecht ab – Nordrhein-Westfalen gehörte und gehört im Bundesländ­ervergleic­h zu den Schlusslic­htern. Es ist höchste Zeit, dies zu ändern. Die volkswirts­chaftliche­n Kosten einer Vernachläs­sigung der Bildungspo­litik werden uns noch in Generation­en beschäftig­en.

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