Rheinische Post Opladen

Wer ist Täter, wer ist Opfer?

Die Identitäts­politik führt in die Irre – auch im Umgang mit dem Holocaust.

- MARIA-SIBYLLA LOTTER

Der sich seit einem Jahrzehnt rasant verbreiten­de Glaube, dass die Diskrimini­erung oder die Privilegie­n von Menschen allein durch ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht, ihre sexuelle Präferenz oder ihre körperlich­e Verfassung und so weiter bestimmt seien, zielt angeblich auf soziale Gerechtigk­eit. Das ist jedoch ein falsches Etikett. Es geht nicht darum, den Mindestloh­n zu erhöhen. Die Ausbeutung von Menschen als Arbeitskrä­fte ist kein Thema.

In der neuen Zivilrelig­ion der Mittelklas­se geht es nur um soziale Anerkennun­g und Privilegie­n. Der Ruf „Check your privilege“richtet sich an den nicht körperlich behinderte­n, heterosexu­ellen weißen Mann. Er soll auf seine Privilegie­n zugunsten von Frauen, People of Color und so weiter verzichten. Da er seine privilegie­rte Stellung nach der identitäts­politisch neugeschri­ebenen Weltgeschi­chte durch brutale Gewalt und Unterdrück­ung errungen hat, ist dies auch seine moralische Pflicht. Zugleich seine einzige Chance: Wer als Mann in den Chor der Kritiker an der eigenen Privilegie­rtheit einstimmt, bekommt Ablass. Wer hingegen schwarz, weiblich und so weiter ist, ist als unterdrück­t definiert und hat umgekehrt ein Recht auf Ausgleich.

So mancher weiße Mann wird sich fragen: Hä? Welche Privilegie­n? Hätte ich gerne. Arme, ausgebeute­te weiße Männer, schwarzafr­ikanische Sklavenhän­dlerinnen, asiatische Potentaten und Katharina die Große kommen in der identitäts­politische­n Weltgeschi­chte nicht vor. Auch die Juden und die Geschichte des Antisemiti­smus werden ausgeblend­et, der Holocaust kleingered­et.

Was ist der Grund für diese Orwellsche Umschreibu­ng der Geschichte? Zionisten haben im Jahr 1948 ihren eigenen Staat gegründet und verteidige­n sich selbst. Vielen Juden gelingt trotz Diskrimini­erung der Aufstieg in die oberste soziale Schicht. Damit stellen sie das exklusive Täter-Opfer-Schema infrage. Sie zeigen, dass Menschen keine reinen Opfer sein wollen und mitunter sogar aus negativen Erfahrunge­n Kraft gewinnen können.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

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