Wer ist Täter, wer ist Opfer?
Die Identitätspolitik führt in die Irre – auch im Umgang mit dem Holocaust.
Der sich seit einem Jahrzehnt rasant verbreitende Glaube, dass die Diskriminierung oder die Privilegien von Menschen allein durch ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht, ihre sexuelle Präferenz oder ihre körperliche Verfassung und so weiter bestimmt seien, zielt angeblich auf soziale Gerechtigkeit. Das ist jedoch ein falsches Etikett. Es geht nicht darum, den Mindestlohn zu erhöhen. Die Ausbeutung von Menschen als Arbeitskräfte ist kein Thema.
In der neuen Zivilreligion der Mittelklasse geht es nur um soziale Anerkennung und Privilegien. Der Ruf „Check your privilege“richtet sich an den nicht körperlich behinderten, heterosexuellen weißen Mann. Er soll auf seine Privilegien zugunsten von Frauen, People of Color und so weiter verzichten. Da er seine privilegierte Stellung nach der identitätspolitisch neugeschriebenen Weltgeschichte durch brutale Gewalt und Unterdrückung errungen hat, ist dies auch seine moralische Pflicht. Zugleich seine einzige Chance: Wer als Mann in den Chor der Kritiker an der eigenen Privilegiertheit einstimmt, bekommt Ablass. Wer hingegen schwarz, weiblich und so weiter ist, ist als unterdrückt definiert und hat umgekehrt ein Recht auf Ausgleich.
So mancher weiße Mann wird sich fragen: Hä? Welche Privilegien? Hätte ich gerne. Arme, ausgebeutete weiße Männer, schwarzafrikanische Sklavenhändlerinnen, asiatische Potentaten und Katharina die Große kommen in der identitätspolitischen Weltgeschichte nicht vor. Auch die Juden und die Geschichte des Antisemitismus werden ausgeblendet, der Holocaust kleingeredet.
Was ist der Grund für diese Orwellsche Umschreibung der Geschichte? Zionisten haben im Jahr 1948 ihren eigenen Staat gegründet und verteidigen sich selbst. Vielen Juden gelingt trotz Diskriminierung der Aufstieg in die oberste soziale Schicht. Damit stellen sie das exklusive Täter-Opfer-Schema infrage. Sie zeigen, dass Menschen keine reinen Opfer sein wollen und mitunter sogar aus negativen Erfahrungen Kraft gewinnen können.
Unsere Autorin ist Philosophie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.