Erdogan tauscht Kritiker in den eigenen Reihen aus
ISTANBUL Politisch interessierte Türken bleiben freitags lange auf, um die digitale Ausgabe des amtlichen Staatsanzeigers zu lesen. Im Präsidialsystem von Staatschef Recep Tayyip Erdogan werden wichtige Entscheidungen häufig nach Mitternacht am Samstag per Erlass bekannt gegeben. So war es auch diesmal: Erdogan verkündete im Staatsanzeiger die Ablösung von Justizminister Abdulhamit Gül. Der Minister war der Regierung zu rechtsstaatlich und hatte sich über Polizeistaatsmethoden bei der Verfolgung politischer Gegner beklagt. Im regierungsinternen Machtkampf ist er den Hardlinern unterlegen. Experten erwarten deshalb jetzt eine neue Dimension von Erdogans autokratischer Herrschaft.
Abdulhamit Gül – nicht zu verwechseln mit dem früheren Präsidenten Abdullah Gül – war ein Jahr nach dem Putschversuch gegen Erdogan ins Amt gekommen und vertrat den islamistischen Flügel der Regierungspartei AKP. In seiner Amtszeit seit Juli 2017 wurden Hunderttausende Staatsbeamte wegen angeblicher Nähe zu den mutmaßlichen Putschisten um den Prediger Fethullah Gülen entlassen, Zehntausende kamen ins Gefängnis.
Den Hardlinern in der Regierung war Gül dennoch nicht radikal genug, zumal er sich gelegentlich für rechtsstaatliche Regeln aussprach. Als Innenminister Süleyman Soylu, der führende Hardliner im Kabinett, öffentlich erklärte, die Polizei müsse im Kampf gegen den Drogenhandel nicht auf Gerichtsbeschlüsse warten, wies Gül seinen Kollegen öffentlich zurecht. Zermürbt vom Machtkampf gegen Soylu und andere Hardliner reichte Gül schließlich seinen Rücktritt ein. Sein Nachfolger, der Erdogan-Loyalist Bekir Bozdag, war in den letzten zehn Jahren schon zweimal Justizminister und dürfte nun einen härteren Kurs gegen Regierungskritiker fahren.
Die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“meldete, vier andere Minister könnten bald ihre Posten verlieren, darunter Außenminister Mevlüt Çavusoglu, der durch Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin ersetzt werden könnte. Erdogan hat in den vergangenen Jahren mehrmals den Finanzminister und den Chef der Zentralbank ausgetauscht. Jetzt feuerte der Präsident auch den Chef des Statistikamtes Tüik. Die Behörde hatte Erdogan verärgert, indem sie den starken Anstieg der Inflation dokumentierte. Im Staatsanzeiger ließ Erdogan jetzt die Entlassung des bisherigen Amtschefs kurz vor Bekanntgabe der neuen Inflationszahlen an diesem Donnerstag bekannt geben.
Kritiker werfen Erdogan vor, die Unabhängigkeit staatlicher Einrichtungen systematisch auszuhöhlen. Institutionen seien nicht mehr glaubwürdig und zu ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr fähig, schrieb der Oppositionspolitiker und ehemalige Tüik-Chef Birol Aydemir auf Twitter.