„Den Beipackzettel sollte man nicht unbedingt lesen“
Der Psychologe von der Universität Marburg über den Nocebo-Effekt, bei dem sich Patienten unerwünschte Reaktionen auf Medikamente einbilden.
Herr Wilhelm, können Sie den Unterschied zwischen Placebo- und Nocebo-Effekt beschreiben? WILHELM Vom Placebo-Effekt spricht man, wenn man nach der Einnahme einer Pille ohne medizinische Inhaltsstoffe subjektiv eine Wirkung verspürt. Der Nocebo-Effekt ist quasi der böse Zwilling des Placebos: Hierbei empfinden die Menschen nach der Einnahme eines wirkungslosen Medikaments Nebenwirkungen. Beide Phänomene treten aber auch zusätzlich auf, wenn wirksame Medikamente eingenommen werden.
Wie häufig kommt es zum Nocebo-Effekt?
WILHELM Tatsächlich sehr häufig, wie unsere Meta-Analyse zur Wirkung der Impfung mit CoronaImpfstoffen ergeben hat. Von insgesamt über 45.000 Teilnehmern wurde rund die Hälfte mit einem wirkungslosen Scheinpräparat geimpft. Rund ein Drittel aus dieser Gruppe gab aber nach der Verabreichung Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Müdigkeit an. Das spricht dafür, dass es ein recht häufiges Phänomen ist.
Spielt uns die Psyche hier also einen Streich?
WILHELM Nicht unbedingt. Es spielen hier viele Mechanismen eine
Rolle: Zentral ist dabei die Erwartungshaltung, die wir bei der Einnahme eines Medikaments haben. Gehe ich positiv an die Einnahme heran, etwa nach einer umfassenden Aufklärung durch den Arzt? Oder bin ich unter Stress und zuvor schon ängstlich oder skeptisch eingestellt? Außerdem kann man Nebenwirkungen auch lernen, sie sich förmlich antrainieren, nach dem Motto: Wenn ich dieses Mittel nehme, bekomme ich immer Kopfschmerzen.
Es sind also unbewusste und bewusste Vorgänge, die hier eine Rolle spielen?
WILHELM Ja. Die Erwartungshaltung kann uns bewusst sein. Aber die Übergänge zu unbewussten Faktoren, die Einfluss nehmen, sind fließend.
Gibt es psychologische Strategien, um gegenzusteuern?
WILHELM Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass es so etwas wie den Nocebo-Effekt überhaupt gibt. Das hilft schon bei der Einordnung, wenn man Nebenwirkungen spürt. Dann hilft außerdem eine positive Assoziation, nach dem Motto: Wenn ich einen leichten Kopfschmerz oder Ähnliches verspüre, dann wirkt das Medikament jetzt auch.
Sollte man also besser keine Beipackzettel von Arzneien lesen? WILHELM Aus medizinischer und rechtlicher Sicht gehört der Beipackzettel natürlich unbedingt zu jeder Arznei dazu. Aber Menschen, die das Gefühl haben, hier sehr empfindlich zu sein, sollten den Beipackzettel vielleicht nicht immer unbedingt lesen.
Hat der Nocebo-Effekt auch eine gute Seite?
WILHELM Als Zeichen, dass das Medikament jetzt zu wirken beginnt, können leichtere Nebenwirkung für uns sehr hilfreich sein und auch die wahrgenommene Wirkung steigern. Ansonsten versucht es die moderne Erwartungsforschung schon ganz klar, Placebo-Effekte zu steigern und Nocebo-Effekte zu reduzieren.