Von Heldinnen und Helden
Der Krieg zwingt Menschen in ihre uralten Rollen. Doch spurlos bleibt das jahrelange Ringen um Gleichberechtigung nicht: Es gibt neue Formen von Tapferkeit – bei Männern und vor allem bei Frauen.
Ain uf den ersten Blick scheint der Krieg in der Ukraine vergessen geglaubte Rollenbilder wieder
die Gegenwart zu heben: Da sind die Szenen von Soldaten, die Abschied von ihren Frauen, Kindern, Eltern nehmen, um in den Kampf zu ziehen. Mit dem Leid, das Krieg bedeutet, ist auch die alte klare Trennung zwischen den Geschlechtern zurück, das Festlegen auf tradierte Kategorien, nach denen es männlich ist, in den Kampf zu ziehen, während die Frauen sich „in Sicherheit bringen“oder daheim „die Stellung halten“.
Dazu gehört auch das Verbot für Ukrainer im wehrfähigen Alter, das Land zu verlassen. Durch Putins Angriff stehen Männer nur noch vor der Wahl, Soldat zu sein oder Deserteur. Ukrainer, die in anderen Ländern leben, bekommen es zu spüren, wenn sie als Feiglinge angefeindet werden. Auch im Westen lebende Russen erleben diese Verengung von Zuschreibungen, wenn sie plötzlich wie Feinde behandelt werden. Der Krieg als brutaler Einbruch der Grausamkeit in das zivile Leben ist selbst so archaisch, dass er erschreckend schnell FreundFeind-Denken reaktiviert, Menschen in uralte Rollen zwingt und scheinbar unabänderlich etwas hervorbringt, das Hans Magnus Enzensberger das „heroische Schema“nennt.
Doch Zeiten kehren nie genau gleich zurück. Und so haben sich Heroismus und Männlichkeitsbilder bei näherer Betrachtung eben doch gewandelt. Das ist in der Ukraine gerade auch zu erleben, und es ist ein Zeichen der Stärke und der Modernität des Landes, wie es mit den Angriffen umgeht. Nämlich nicht martialisch, nicht mit Hass- und Rachefuror. Die Ukrainer zeigen sich als menschlich zutiefst getroffen und begegnen dem
Unfassbaren mit einer nüchternen Entschlossenheit, einer beschämend unpathetischen Tapferkeit, die so viel stärker wirkt als all die von Lügen verzerrten Auftritte der russischen Führungsriege.
Natürlich wird dieser Eindruck derzeit stark von den politisch Verantwortlichen in der Ukraine bestimmt. Von den Auftritten des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj oder den Wortmeldungen der Klitschko-Brüder aus Kiew. Diese Männer besitzen eine Popularität, die aus friedlichen Zeiten stammt und sie in zivilen Rollen bekannt machte, als Komiker, als Sportler, als Medienstars. Sie nun in Tarnpullis zu sehen, mit schusssicheren Westen, müden Gesichtern, macht augenfällig, wozu das gesamte Land gezwungen wird: sich in einem Krieg zu bewähren, in den es mutwillig gerissen wurde. Die Helden der Ukraine sind keine stahlharten Krieger, sie wirken auf zivile Art tapfer, zugleich smart, bodenständig, noch der Selbstironie fähig. Ihr Heroismus ist einer wider Willen, was ihn gerade für Gesellschaften attraktiv macht, die schon lange nichts mehr von Krieg und Heldentum wissen wollten.
Genauso hat sich die Rolle und Wahrnehmung der Frauen in diesem Krieg verändert. Nicht nur, weil auch Frauen in den Krieg ziehen und die digitalen Netzwerke nutzen, um zu zeigen, wie sie sich rüsten, Schießen üben, wie schon Mädchen Molotowcocktails bauen. Natürlich ist es auch ein Akt des verzweifelten Mutes, der Unabhängigkeit und Stärke, aus den umkämpften Städten zu fliehen und dabei die Verantwortung für Alte und Kinder zu übernehmen. Von Frauen auf der Flucht ist eine andere, aber keine geringere Tapferkeit verlangt. Das war schon immer so, aber inzwischen wird es auch so gesehen. Auch in den belagerten Städten ringen Frauen um das Überleben ihrer Familien.
Und da sind Frauen wie Marina Owsjannikowa, die heldenhafte Entscheidungen treffen: Sie hatte den einsamen Mut, in der wichtigsten Nachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens ein Plakat hochzuhalten, auf dem sie den Stopp des Krieges forderte und die Lügenmaschinerie der Staatsmedien anprangerte, für die sie selbst gearbeitet hat. Es wird nun spekuliert, ob Marina Owsjannikowa wirklich allein handelte, ob ihr professioneller Video-Aufruf zu Protest und zivilem Ungehorsam, der vor ihrem Auftritt veröffentlicht wurde, nicht ein Zeichen dafür ist, dass sich bei den Moskauer Eliten etwas bewegt. Doch egal, was der Hintergrund ist – sie hat viel riskiert, ist eine Heldin auf den Schlachtfeldern der Desinformation.
Soziologen und Politikwissenschaftler haben westlichen Gesellschaften schon lange das Etikett des „Postheroischen“verpasst. Zu groß ist die Skepsis gegenüber Heldenverehrung und -tod. Die Unbedingtheit, mit der die Ukrainer nun für ihr Land und für Werte wie Freiheit kämpfen, konfrontiert dieses Denken mit einer Wirklichkeit, in der es immer noch Angriffe und das plötzliche Zusammenbrechen der zivilen Welt geben kann. Allerdings hat das postheroische Denken auch den Blick dafür geweitet, wie stark vermeintlich schwaches Handeln sein kann. Und wie heroisch der Rückzug. Der Verzicht auf Ruhm und Ehre, um Leben zu retten – auch das scheint zum Selbstverständnis des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu gehören. Früh ist er von seiner Forderung einer Nato-Mitgliedschaft für sein Land abgerückt, hat Gesprächsbereitschaft mit dem Aggressor bewiesen. Das wurde als Folge der militärischen Unterlegenheit der Ukraine gewertet, als realpolitischer Versuch, das Leid in den belagerten Städten möglichst schnell zu beenden. Der postheroische Held wollte nie in den Krieg und ist bereit, für Frieden auf Ruhm und Ehre zu verzichten. Könnte sein, dass die Ukraine solche Helden hat.