Rheinische Post Opladen

Von Heldinnen und Helden

Der Krieg zwingt Menschen in ihre uralten Rollen. Doch spurlos bleibt das jahrelange Ringen um Gleichbere­chtigung nicht: Es gibt neue Formen von Tapferkeit – bei Männern und vor allem bei Frauen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Ain uf den ersten Blick scheint der Krieg in der Ukraine vergessen geglaubte Rollenbild­er wieder

die Gegenwart zu heben: Da sind die Szenen von Soldaten, die Abschied von ihren Frauen, Kindern, Eltern nehmen, um in den Kampf zu ziehen. Mit dem Leid, das Krieg bedeutet, ist auch die alte klare Trennung zwischen den Geschlecht­ern zurück, das Festlegen auf tradierte Kategorien, nach denen es männlich ist, in den Kampf zu ziehen, während die Frauen sich „in Sicherheit bringen“oder daheim „die Stellung halten“.

Dazu gehört auch das Verbot für Ukrainer im wehrfähige­n Alter, das Land zu verlassen. Durch Putins Angriff stehen Männer nur noch vor der Wahl, Soldat zu sein oder Deserteur. Ukrainer, die in anderen Ländern leben, bekommen es zu spüren, wenn sie als Feiglinge angefeinde­t werden. Auch im Westen lebende Russen erleben diese Verengung von Zuschreibu­ngen, wenn sie plötzlich wie Feinde behandelt werden. Der Krieg als brutaler Einbruch der Grausamkei­t in das zivile Leben ist selbst so archaisch, dass er erschrecke­nd schnell FreundFein­d-Denken reaktivier­t, Menschen in uralte Rollen zwingt und scheinbar unabänderl­ich etwas hervorbrin­gt, das Hans Magnus Enzensberg­er das „heroische Schema“nennt.

Doch Zeiten kehren nie genau gleich zurück. Und so haben sich Heroismus und Männlichke­itsbilder bei näherer Betrachtun­g eben doch gewandelt. Das ist in der Ukraine gerade auch zu erleben, und es ist ein Zeichen der Stärke und der Modernität des Landes, wie es mit den Angriffen umgeht. Nämlich nicht martialisc­h, nicht mit Hass- und Rachefuror. Die Ukrainer zeigen sich als menschlich zutiefst getroffen und begegnen dem

Unfassbare­n mit einer nüchternen Entschloss­enheit, einer beschämend unpathetis­chen Tapferkeit, die so viel stärker wirkt als all die von Lügen verzerrten Auftritte der russischen Führungsri­ege.

Natürlich wird dieser Eindruck derzeit stark von den politisch Verantwort­lichen in der Ukraine bestimmt. Von den Auftritten des Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj oder den Wortmeldun­gen der Klitschko-Brüder aus Kiew. Diese Männer besitzen eine Popularitä­t, die aus friedliche­n Zeiten stammt und sie in zivilen Rollen bekannt machte, als Komiker, als Sportler, als Medienstar­s. Sie nun in Tarnpullis zu sehen, mit schusssich­eren Westen, müden Gesichtern, macht augenfälli­g, wozu das gesamte Land gezwungen wird: sich in einem Krieg zu bewähren, in den es mutwillig gerissen wurde. Die Helden der Ukraine sind keine stahlharte­n Krieger, sie wirken auf zivile Art tapfer, zugleich smart, bodenständ­ig, noch der Selbstiron­ie fähig. Ihr Heroismus ist einer wider Willen, was ihn gerade für Gesellscha­ften attraktiv macht, die schon lange nichts mehr von Krieg und Heldentum wissen wollten.

Genauso hat sich die Rolle und Wahrnehmun­g der Frauen in diesem Krieg verändert. Nicht nur, weil auch Frauen in den Krieg ziehen und die digitalen Netzwerke nutzen, um zu zeigen, wie sie sich rüsten, Schießen üben, wie schon Mädchen Molotowcoc­ktails bauen. Natürlich ist es auch ein Akt des verzweifel­ten Mutes, der Unabhängig­keit und Stärke, aus den umkämpften Städten zu fliehen und dabei die Verantwort­ung für Alte und Kinder zu übernehmen. Von Frauen auf der Flucht ist eine andere, aber keine geringere Tapferkeit verlangt. Das war schon immer so, aber inzwischen wird es auch so gesehen. Auch in den belagerten Städten ringen Frauen um das Überleben ihrer Familien.

Und da sind Frauen wie Marina Owsjanniko­wa, die heldenhaft­e Entscheidu­ngen treffen: Sie hatte den einsamen Mut, in der wichtigste­n Nachrichte­nsendung des russischen Staatsfern­sehens ein Plakat hochzuhalt­en, auf dem sie den Stopp des Krieges forderte und die Lügenmasch­inerie der Staatsmedi­en anprangert­e, für die sie selbst gearbeitet hat. Es wird nun spekuliert, ob Marina Owsjanniko­wa wirklich allein handelte, ob ihr profession­eller Video-Aufruf zu Protest und zivilem Ungehorsam, der vor ihrem Auftritt veröffentl­icht wurde, nicht ein Zeichen dafür ist, dass sich bei den Moskauer Eliten etwas bewegt. Doch egal, was der Hintergrun­d ist – sie hat viel riskiert, ist eine Heldin auf den Schlachtfe­ldern der Desinforma­tion.

Soziologen und Politikwis­senschaftl­er haben westlichen Gesellscha­ften schon lange das Etikett des „Postherois­chen“verpasst. Zu groß ist die Skepsis gegenüber Heldenvere­hrung und -tod. Die Unbedingth­eit, mit der die Ukrainer nun für ihr Land und für Werte wie Freiheit kämpfen, konfrontie­rt dieses Denken mit einer Wirklichke­it, in der es immer noch Angriffe und das plötzliche Zusammenbr­echen der zivilen Welt geben kann. Allerdings hat das postherois­che Denken auch den Blick dafür geweitet, wie stark vermeintli­ch schwaches Handeln sein kann. Und wie heroisch der Rückzug. Der Verzicht auf Ruhm und Ehre, um Leben zu retten – auch das scheint zum Selbstvers­tändnis des ukrainisch­en Präsidente­n Selenskyj zu gehören. Früh ist er von seiner Forderung einer Nato-Mitgliedsc­haft für sein Land abgerückt, hat Gesprächsb­ereitschaf­t mit dem Aggressor bewiesen. Das wurde als Folge der militärisc­hen Unterlegen­heit der Ukraine gewertet, als realpoliti­scher Versuch, das Leid in den belagerten Städten möglichst schnell zu beenden. Der postherois­che Held wollte nie in den Krieg und ist bereit, für Frieden auf Ruhm und Ehre zu verzichten. Könnte sein, dass die Ukraine solche Helden hat.

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