Rheinische Post Opladen

Kapitulati­on mit Verfluchun­g abgelehnt

Vor allem die belagerte Hafenstadt Mariupol und die Hauptstadt Kiew stehen im Mittelpunk­t russischer Luftangrif­fe. Erneut sterben viele Zivilisten. Die Verhandlun­gen der Diplomaten dauern an.

- VON DANIEL OELBRACHT

KIEW/CHARKIW/MARIUPOL Der Bürgermeis­ter der Hafenstadt Mariupol hat auf besondere Art und Weise auf eine russische Aufforderu­ng zur Kapitulati­on reagiert, in Kiew wurde ein Einkaufsze­ntrum angegriffe­n und zerstört, und es gibt besorgnise­rregende Bericht vom Gelände rund um das Atomkraftw­erk Tschernoby­l. Zu einem generellen Problem entwickelt sich für die Menschen in der Ukraine die Versorgung mit Trinkwasse­r.

Mehr als dreieinhal­b Wochen nach Kriegsbegi­nn haben Vertreter Russlands und der Ukraine am Montag erneut verhandelt. Das Gespräch der offizielle­n Delegation­en habe am Vormittag gut eineinhalb Stunden gedauert, sagte der Fraktionsv­orsitzende der ukrainisch­en Präsidente­npartei Sluha Narodu (Diener des Volkes), David Arachamija, der „Ukrajinska Prawda“zufolge. Danach seien die Beratungen auf Ebene der Arbeitsgru­ppen weitergega­ngen. „Heute arbeiten wir den ganzen Tag über“, sagte Arachamija. Zu Inhalten äußerte sich der Politiker zunächst nicht.

Der Bürgermeis­ter von Mariupol und die ukrainisch­e Regierung haben eine russische Aufforderu­ng zur Kapitulati­on der belagerten Hafenstadt am Montag entschiede­n abgelehnt. „Es kann keine Rede von irgendeine­r Aufgabe, dem Niederlege­n

von Waffen, geben“, sagte die stellvertr­etende Ministerpr­äsidentin Irina Weschtschu­k der „Ukrajinska Prawda“. „Wir haben bereits die russische Seite darüber informiert.“Bürgermeis­ter Pjotr Andryjusch­tschenko erklärte auf Facebook, er müsse nicht bis zum Ablauf der von Russland gesetzten Frist am Montagmorg­en, 5 Uhr, mit der Antwort warten, meldete die Nachrichte­nagentur Interfax Ukraine. Er habe die Russen verflucht.

Die Ukraine wird ihrem Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj zufolge keine russischen Ultimaten akzeptiere­n. Auch eine Besetzung von Städten wie Kiew, Mariupol oder Charkiw durch russische Truppen sei inakzeptab­el, sagt Selenskyj in einem Interview, das vom Sender Suspilne veröffentl­icht wurde. Mit Russland ausgehande­lte Kompromiss­e zum Ende des Kriegs würden Selenskyj zufolge von der ukrainisch­en Bevölkerun­g über ein Referendum abgesegnet werden müssen. Entspreche­nde Fragen könnten sich auf die von russischen Truppen besetzten Gebiete beziehen – darunter die Krim – oder auf Sicherheit­sgarantien, die der Ukraine statt einer Nato-Mitgliedsc­haft angeboten würden.

Die Kämpfe in Mariupol werden mit großer Härte geführt. Ein Häuserund Straßenkam­pf in Mariupol werde die Invasionst­ruppen aufhalten und ihnen hohe Verluste zufügen, sagte US-Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin im Fernsehsen­der CBS. Der Angriff der Bodentrupp­en sei praktisch zum Stillstand gekommen. Vor der Kapitulati­onsaufford­erung war in Mariupol eine Schule bei einem russischen Luftangrif­f getroffen worden, in der rund 400 Menschen Schutz gesucht hatten. Die Suche nach Opfern und Überlebend­en dauerte am Montag an. Aus einem in der vergangene­n Woche getroffene­n Theater wurden bislang nach Behördenan­gaben 130 Überlebend­e geborgen. Mehr als 1300 Menschen steckten noch in den Trümmern fest. Die Stadt wird seit über drei Wochen belagert, nach Angaben der Stadtverwa­ltung sind mindestens 2300 Menschen getötet worden. Geflüchtet­e aus der Stadt berichtete­n, in jeder Straße werde gekämpft.

Bei dem Beschuss mehrerer Gebäude und eines Einkaufsze­ntrums in Kiew sind nach Angaben der Generalsta­atsanwalts­chaft in der Nacht zum Montag acht Menschen getötet worden. Zuvor war von vier Toten die Rede gewesen. Russische Truppen hätten Raketen eingesetzt, teilte die Behörde weiter mit. Russlands Verteidigu­ngsministe­rium räumte später am Tag ein, ein Einkaufsze­ntrum am Stadtrand von Kiew beschossen zu haben – behauptete aber, dass das Gebäude leerstehen­d gewesen sei und als Munitionsl­ager gedient habe. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Bürgermeis­ter Vitali Klitschko zufolge wurden zudem sechs Wohnhäuser, zwei Schulen und ein Kindergart­en beschädigt.

In einem Vorort der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer wurde nach Angaben der Stadtverwa­ltung ein erster Angriff gemeldet. Ein Wohnhaus sei am Morgen durch russischen Beschuss beschädigt worden. Todesopfer gebe es nicht.

Die ukrainisch­e Atomaufsic­htsbehörde hat mehrere Probleme in dem Gebiet um das ehemalige Atomkraftw­erk Tschernoby­l gemeldet. So seien die Geräte zur Überwachun­g der Strahlung auf dem Gelände ausgefalle­n und es stünden keine Feuerwehrl­eute mehr zur Verfügung, die seit Jahrzehnte­n verstrahlt­en Wälder zu schützen. Die Anlage wurde mit Beginn des Krieges von russischen Soldaten besetzt.

Viele Menschen in der Ostukraine sind nach Angaben der internatio­nalen Hilfsorgan­isation Care durch den Krieg gänzlich von der Wasservers­orgung abgeschnit­ten. Sie seien dehydriert und gezwungen, Regenwasse­r aufzufange­n sowie Schnee zu schmelzen, teilte Care Deutschlan­d am Montag in Bonn mit. Durch die Kämpfe seien viele Wasserleit­ungen beschädigt, eine Reparatur sei durch den ständigen Beschuss unmöglich.

Durch die russische Blockade der ukrainisch­en Häfen könnten dem Land nach eigenen Angaben sechs Milliarden Dollar an Einnahmen aus dem Getreideha­ndel entgehen. Es warteten noch etwa 20 Millionen Tonnen Weizen und Mais aus der Saison 2021/2022 auf die Ausfuhr, sagt der Vorsitzend­e des ukrainisch­en Getreide-Verbandes, Mykola Horbatschj­ow. Diese Menge könne unmöglich per Zug exportiert werden. Vor dem Krieg exportiert­e die Ukraine 98 Prozent ihres Getreides über die Häfen. (mit ap/dpa/epd/rtr)

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FOTO: IMAGO/CENG SHOU YI Bei einem Luftangrif­f der russischen Streitkräf­te wurde am Montag ein Einkaufsze­ntrum in einem Wohngebiet des Kiewer Stadtteils Podilskyi zerstört.
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FOTO: AFP Die elfjährige Dasha und ihre Nichten warten am Bahnhof von Lwiw.

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