Kapitulation mit Verfluchung abgelehnt
Vor allem die belagerte Hafenstadt Mariupol und die Hauptstadt Kiew stehen im Mittelpunkt russischer Luftangriffe. Erneut sterben viele Zivilisten. Die Verhandlungen der Diplomaten dauern an.
KIEW/CHARKIW/MARIUPOL Der Bürgermeister der Hafenstadt Mariupol hat auf besondere Art und Weise auf eine russische Aufforderung zur Kapitulation reagiert, in Kiew wurde ein Einkaufszentrum angegriffen und zerstört, und es gibt besorgniserregende Bericht vom Gelände rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl. Zu einem generellen Problem entwickelt sich für die Menschen in der Ukraine die Versorgung mit Trinkwasser.
Mehr als dreieinhalb Wochen nach Kriegsbeginn haben Vertreter Russlands und der Ukraine am Montag erneut verhandelt. Das Gespräch der offiziellen Delegationen habe am Vormittag gut eineinhalb Stunden gedauert, sagte der Fraktionsvorsitzende der ukrainischen Präsidentenpartei Sluha Narodu (Diener des Volkes), David Arachamija, der „Ukrajinska Prawda“zufolge. Danach seien die Beratungen auf Ebene der Arbeitsgruppen weitergegangen. „Heute arbeiten wir den ganzen Tag über“, sagte Arachamija. Zu Inhalten äußerte sich der Politiker zunächst nicht.
Der Bürgermeister von Mariupol und die ukrainische Regierung haben eine russische Aufforderung zur Kapitulation der belagerten Hafenstadt am Montag entschieden abgelehnt. „Es kann keine Rede von irgendeiner Aufgabe, dem Niederlegen
von Waffen, geben“, sagte die stellvertretende Ministerpräsidentin Irina Weschtschuk der „Ukrajinska Prawda“. „Wir haben bereits die russische Seite darüber informiert.“Bürgermeister Pjotr Andryjuschtschenko erklärte auf Facebook, er müsse nicht bis zum Ablauf der von Russland gesetzten Frist am Montagmorgen, 5 Uhr, mit der Antwort warten, meldete die Nachrichtenagentur Interfax Ukraine. Er habe die Russen verflucht.
Die Ukraine wird ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge keine russischen Ultimaten akzeptieren. Auch eine Besetzung von Städten wie Kiew, Mariupol oder Charkiw durch russische Truppen sei inakzeptabel, sagt Selenskyj in einem Interview, das vom Sender Suspilne veröffentlicht wurde. Mit Russland ausgehandelte Kompromisse zum Ende des Kriegs würden Selenskyj zufolge von der ukrainischen Bevölkerung über ein Referendum abgesegnet werden müssen. Entsprechende Fragen könnten sich auf die von russischen Truppen besetzten Gebiete beziehen – darunter die Krim – oder auf Sicherheitsgarantien, die der Ukraine statt einer Nato-Mitgliedschaft angeboten würden.
Die Kämpfe in Mariupol werden mit großer Härte geführt. Ein Häuserund Straßenkampf in Mariupol werde die Invasionstruppen aufhalten und ihnen hohe Verluste zufügen, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im Fernsehsender CBS. Der Angriff der Bodentruppen sei praktisch zum Stillstand gekommen. Vor der Kapitulationsaufforderung war in Mariupol eine Schule bei einem russischen Luftangriff getroffen worden, in der rund 400 Menschen Schutz gesucht hatten. Die Suche nach Opfern und Überlebenden dauerte am Montag an. Aus einem in der vergangenen Woche getroffenen Theater wurden bislang nach Behördenangaben 130 Überlebende geborgen. Mehr als 1300 Menschen steckten noch in den Trümmern fest. Die Stadt wird seit über drei Wochen belagert, nach Angaben der Stadtverwaltung sind mindestens 2300 Menschen getötet worden. Geflüchtete aus der Stadt berichteten, in jeder Straße werde gekämpft.
Bei dem Beschuss mehrerer Gebäude und eines Einkaufszentrums in Kiew sind nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft in der Nacht zum Montag acht Menschen getötet worden. Zuvor war von vier Toten die Rede gewesen. Russische Truppen hätten Raketen eingesetzt, teilte die Behörde weiter mit. Russlands Verteidigungsministerium räumte später am Tag ein, ein Einkaufszentrum am Stadtrand von Kiew beschossen zu haben – behauptete aber, dass das Gebäude leerstehend gewesen sei und als Munitionslager gedient habe. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Bürgermeister Vitali Klitschko zufolge wurden zudem sechs Wohnhäuser, zwei Schulen und ein Kindergarten beschädigt.
In einem Vorort der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer wurde nach Angaben der Stadtverwaltung ein erster Angriff gemeldet. Ein Wohnhaus sei am Morgen durch russischen Beschuss beschädigt worden. Todesopfer gebe es nicht.
Die ukrainische Atomaufsichtsbehörde hat mehrere Probleme in dem Gebiet um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl gemeldet. So seien die Geräte zur Überwachung der Strahlung auf dem Gelände ausgefallen und es stünden keine Feuerwehrleute mehr zur Verfügung, die seit Jahrzehnten verstrahlten Wälder zu schützen. Die Anlage wurde mit Beginn des Krieges von russischen Soldaten besetzt.
Viele Menschen in der Ostukraine sind nach Angaben der internationalen Hilfsorganisation Care durch den Krieg gänzlich von der Wasserversorgung abgeschnitten. Sie seien dehydriert und gezwungen, Regenwasser aufzufangen sowie Schnee zu schmelzen, teilte Care Deutschland am Montag in Bonn mit. Durch die Kämpfe seien viele Wasserleitungen beschädigt, eine Reparatur sei durch den ständigen Beschuss unmöglich.
Durch die russische Blockade der ukrainischen Häfen könnten dem Land nach eigenen Angaben sechs Milliarden Dollar an Einnahmen aus dem Getreidehandel entgehen. Es warteten noch etwa 20 Millionen Tonnen Weizen und Mais aus der Saison 2021/2022 auf die Ausfuhr, sagt der Vorsitzende des ukrainischen Getreide-Verbandes, Mykola Horbatschjow. Diese Menge könne unmöglich per Zug exportiert werden. Vor dem Krieg exportierte die Ukraine 98 Prozent ihres Getreides über die Häfen. (mit ap/dpa/epd/rtr)