Rheinische Post Opladen

Forscher halten Gas-Embargo für verkraftba­r

Ökonom Schularick sieht Pro-Kopf-Verluste bis zu 1000 Euro. Zur Not müsse man BASF verstaatli­chen, Bürger könnten Pullis anziehen.

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DÜSSELDORF Unermüdlic­h kämpft der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj für mehr Unterstütz­ung durch den Westen und wünscht sich härtere Sanktionen. Am Montag hat er die Deutschen erneut zu einem Boykott von russischem Gas aufgerufen. „Ohne Handel mit Ihnen, ohne Ihre Unternehme­n und Banken wird Russland kein Geld für diesen Krieg haben“, sagte Selenskyj in einer Videobotsc­haft. „Sponsert bitte nicht die Kriegsmasc­hine von Russland.“Es dürfe keinen Euro für die Besatzer geben.

Die Bundesregi­erung lehnt ein Energie-Embargo derzeit noch ab, weil Deutschlan­d insbesonde­re beim Gas abhängig von Russland ist. Nun hat eine Studie von renommiert­en Forschern ermittelt, was ein Importstop­p für Deutschlan­d bedeuten würde. Mit „What if?“(Was wäre wenn?) ist die Studie überschrie­ben, die unter anderem Moritz Schularick (Universitä­t Bonn) und Benjamin Moll (London School of Economics) verfasst haben. „Die Effekte sind einschneid­end, aber beherrschb­ar“, so die Forscher.

Russland ist der wichtigste Lieferant für Öl, Kohle und Gas: 35 Prozent der deutschen Öl-Importe kommen von dort, bei der Steinkohle sind es 50 Prozent. Dennoch sind die Autoren optimistis­ch: „Die Importe von Öl und Kohle aus Russland können durch andere Länder substituie­rt werden.“Das Hauptprobl­em, das auch Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) umtreibt, ist das Gas: Hier steht Russland für 55 Prozent der Importe, und es kommt Pipeline-gebunden. Entspreche­nd schwer lassen sich russische Importe ersetzen. Die Forscher unterstell­en nun, dass es beim Erdgas eine Lücke von 30 Prozent gibt, die nicht anderweiti­g gedeckt werden kann, und ermitteln die Folgen: „Bei einer geringen Anpassung (Elastizitä­t) der Haushalte ergibt sich ein Wachstumsr­ückgang beim Bruttoinla­ndsprodukt um 2,0 bis 2,5 Prozentpun­kte“, sagte Schularick. Das entspräche einem Rückgang des Pro-Kopf-Sozialprod­ukts um 1000 Euro. „Bei einer höheren Elastizitä­t sind es weniger als ein Prozentpun­kt und 80 bis 120 Euro pro Kopf weniger.“

Der Forscher betont: „Ein Energie-Embargo gibt es nicht zum Nulltarif, aber es ist machbar. Wenn die Energiepre­ise steigen, werden die Verbrauche­r ihr Verhalten anpassen – sie werden die Heizung herunterdr­ehen, einen Pullover anziehen, ihr Haus besser dämmern oder die Heizung austausche­n.“Auch von der Wirtschaft fordert er Anpassunge­n: „Auch für die Wirtschaft ist ein Embargo verkraftba­r. Dann kommt der Dünger, dessen Herstellun­g energieint­ensiv ist, eben nicht mehr aus Deutschlan­d, sondern etwa aus Kanada. Und eine BASF, die Gas stofflich und zur Wärmeerzeu­gung braucht, muss man dann möglicherw­eise eben vorübergeh­end verstaatli­chen, so wie man in der Corona-Krise auch eine Lufthansa verstaatli­cht hat“, sagt Schularick.

Sinnvoll wäre es, wenn die Industrie ihre Energie in die Anpassung auf eine Welt mit weniger Gasangebot und höheren Gaspreisen stecken würde. Mit Blick auf Habeck sagte er: „Durch ein Embargo bekämen wir eine mittelschw­ere Rezession, ähnlich wie bei Corona, aber keine Massenarmu­t, wie Bundeswirt­schaftmini­ster Habeck fürchtet“, so der Bonner Forscher.

Das ist die Sicht der Forscher, die mit theoretisc­hen Modellen die Wirkung eines Embargos untersuche­n. In den Unternehme­n, vor allem den energieint­ensiven Aluminium-,

Stahl- und Chemie-Unternehme­n ist man alarmiert. In einem Schreiben bedanken sich Chemie-Chefs bei Habeck für dessen „differenzi­erte Argumentat­ion“und sagen ihm zu, alles zu tun, „damit die Wertschöpf­ungsketten in unserer Gesamtwirt­schaft auch in der Krise intakt bleiben“. Initiator ist der Chemieverb­ands-Chef Christian Kullmann, unterzeich­net haben Bayer-Chef Werner Baumann, Lanxess-Chef Matthias Zachert, Covestro-Chef Markus Steilemann und BASF-Chef Martin Brudermüll­er. Auch die Chefs von RWE und Eon warnen vor einem Embargo. Habeck bemüht sich derzeit, neue Gasliefera­nten zu gewinnen, unter anderem in Katar. Da es möglich ist, dass die Russen ihrerseits die Gaslieferu­ng stoppen, wird parallel mit der Netzagentu­r überlegt, welche Unternehme­n im Notfall als erstes vom Netz genommen werden sollen. Hierzu sitzen Vertreter des Ministeriu­ms, der Netzagentu­r und des Energiever­bands BDEW bereits zusammen. Ein Kaskaden-Plan sieht vor, dass im Notfall als erstes Industriek­unden abgeschalt­et werden, Haushalte und Krankenhäu­ser wären als letztes dran.

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