Alles andere als neutral
Chinas Intellektuelle sehen ihr Land langfristig eng an der Seite Russlands.
PEKING Mit einer gehörigen Portion Selbstverliebtheit trat Chinas Außenminister Wang Yi am Samstag vor die Presse. Dabei behauptete der Spitzendiplomat, dass sein Land in der Ukraine-Krise „auf der richtigen Seite der Geschichte steht“. Doch Fakt ist: Chinas Diplomaten vermeiden es weiterhin, Russland überhaupt als Aggressor zu benennen. Die Invasion der Ukraine ist für viele nach wie vor eine „spezielle Militäroperation“. Insofern steht die Volksrepublik derzeit vor allem an der Seite eines Pariastaats.
Oder etwa doch nicht? Die Kommunikation der Volksrepublik China ist ein ständiges Hin und Her. Insbesondere auf den westlichen Online-Plattformen schlugen die Botschafter und Journalisten der Staatsmedien zuletzt deutlich moderatere Töne an. Sie sprechen wiederholt von der eigenen Neutralität, erwähnen die menschlichen Tragödien aufseiten der ukrainischen Zivilbevölkerung. Doch in den heimischen sozialen Medien ist die Tonart eine deutlich andere. „Einige Chinesen fordern, dass wir dem Westen folgen und die russische Invasion der Ukraine verurteilen sollten. Das ist naiv“, schreibt Hu Xijin auf seinem Weibo-Account. Hu gilt nach wie vor als einflussreichster Publizist des Landes, als ehemaliger Chefredakteur der boulevardesk-nationalistischen Parteizeitung „Global Times“ist er ein zuverlässiger Seismograf für die Stimmung des Volks.
Und was Hu zu sagen hat, lässt keine Zweifel mehr, auf welcher Seite die Regierung stehen sollte: „China, und nicht Russland, ist Amerikas hauptsächlicher Herausforderer“,
heißt es. Von daher sei jedes Land ein strategischer Partner, das sich gegen die US-Hegemonie stelle. Zudem würde man sich mit Russland gegenseitig diplomatisch unterstützen – auch in Bezug auf die „inneren Angelegenheiten“Xinjiang, Hongkong oder Taiwan. Hu Xijin schreibt ganz unverhohlen, dass die Konfrontation zwischen Peking und Washington unweigerlich in einen Krieg münden werde. Und dass man die Nuklearwaffen Russlands unbedingt brauche, damit die atomare Abschreckung der USA nicht mehr greifen könne.
Das klingt geradezu konträr zu den Äußerungen europäischer Spitzendiplomaten, die zuweilen China als neutralen Vermittler ins Boot holen wollen. Allein, dass sich Peking an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland beteiligen könnte, ist gänzliches Wunschdenken. Diao Daming, ein renommierter Politologe der Pekinger Renmin-Universität, sagte dazu jüngst in einem Interview: „China wird kein Land nötigen und auch niemals äußeren Zwang von irgendeinem Land akzeptieren.“Wer freien Informationszugang
hat, weiß natürlich, dass China wie kaum ein zweiter Staat seine Wirtschaftsmacht einsetzt, um ungehorsame Abweichler mit Handelsboykotten und anderen Strafmaßnahmen abzukanzeln. Als Litauen es gewagt hatte, ein Vertreterbüro Taiwans zu eröffnen, stellte China den Warenverkehr mit dem baltischen Staat vollständig ein. Und Australien wurde mit Importstopps seiner Kohle und seines Weins bestraft, nachdem Premier Scott Morrison eine Untersuchung zu den Ursprüngen der Pandemie in China gefordert hatte.
Wu Xinbo, der das Zentrum für Amerika-Studien an der Fudan-Universität in Shanghai leitet, äußerte sich ebenfalls unmissverständlich zur langfristigen Ausrichtung Chinas: „Wir werden Russland nicht aufgrund des Drucks oder der Provokation der USA vor den Kopf stoßen“, sagte er jüngst einer chinesischen Zeitung. Denn es sei ganz klar, dass man dieselben strategischen Ziele habe. Die Regierung sei sich darüber „sehr klar“, und man werde sich nicht „durch Druck der USA oder Ahnliches beirren lassen“.