Das bosnische Ukraine-Szenario
Der jugoslawische Nachfolgestaat ist ethnisch zerrissen und politisch zerstritten. Serbenführer Dodik streut Abspaltungsgerüchte. Experten glauben aber nicht, dass er es auf einen Krieg ankommen lässt.
Die einstigen „Hohen Repräsentanten“der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina läuten die Alarmglocken: „Wir fürchten, dass sich die Aggression in der Ukraine auf den Westbalkan ausweiten könnte“, warnten Christian Schwarz-Schilling und Valentin Inzko zu Monatsbeginn in einem dramatischen Appell: „Niemand weiß, was Putins Ziele sind. Deshalb bitten wir Sie, alles zu tun, um Bosnien und Herzegowina zu schützen.“
Mit den engen Kreml-Verbindungen des bosnischen Serbenführers Milorad Dodik und von Serbiens Präsident Aleksandar Vucic begründen die Ex-Diplomaten ihre Sorge, dass Moskau die Sezessionsgelüste der Republika Srpska, des einen der beiden bosnischen Teilstaaten, nutzen könnte, einen Konflikt im EUVorhof vom Zaun zu brechen. Tatsächlich rufen die Kriegsbilder aus der Ukraine bei vielen Zeitzeugen schlimme Erinnerungen wach: Im Bosnienkrieg (1992–1995) starben fast 100.000 Menschen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde vertrieben.
Auch drei Jahrzehnte nach Kriegsbeginn lebt Bosniens Politikerkaste von gezielt aufgewärmten Spannungen – und Kriegsängsten. Korruption, Emigration, Rechts- und Perspektivlosigkeit
sind die wahren Probleme der Bewohner des zerrissenen Staats. Doch vor jedem Urnengang wärmen die Scharfmacher nationalistische Vorbehalte neu auf – Dodik ist kein Einzelfall. Mit den Parlaments-, Teilstaats- und Präsidentschaftswahlen im Herbst sind auch die vermehrten Sezessionsdrohungen zu erklären, mit denen Dodik seine Landsleute und die internationale Gemeinschaft seit Monaten in Atem hält. Zusätzliche Nahrung erhalten Bosniens Ängste durch den Ukraine-Krieg.
Die Politiker der muslimischen Bosniaken fordern Sanktionen gegen Moskau. Die bosnischen Serben lehnen das strikt ab; bei den Kroaten scheinen die Meinungen geteilt. Während der russische Botschafter für den Fall eines ohnehin nicht zur
Debatte stehenden Nato-Beitritts düster mit „Reaktionen“droht, donnern vermehrt französische Kampfflieger über die bosnischen Berge. Auch als Signal an Moskau haben die Westmächte die Stärke der internationalen Eufor-Truppen nun auf 1100 Mann verdoppelt.
Doch ist das vor allem von Politikern der Bosniaken und westlichen Diplomaten gezeichnete Ukraine-Szenario realistisch? In der Republika Srpska sieht die Opposition in Dodiks Sezessionsgepolter in erster Linie einen Wahlkampf-Bluff, um von Korruptionsskandalen abzulenken: Nach den Wahlen würden seine Vorhaben wie die Schaffung einer Teilstaatsarmee wieder einmal in der Schublade verschwinden.
Vieles deutet tatsächlich auf einen erneuten Sturm im Wasserglas hin. So hat die Teilstaatsregierung dem Beschluss zur Rückübertragung an den Zentralstaat abgetretener Zuständigkeiten vom Dezember noch keine Taten folgen lassen. „Das Gerede um die Zuständigkeiten hat sich gelegt“, konstatierte die Zeitung „Euro Blic“in Banja Luka.
Als „kleinstmöglich“bezeichnet auch der Analyst Srdjan Puhalo in Banja Luka das Risiko eines neuen Waffengangs. Zum einen sei die Stimmungslage keineswegs mit der in den 90er-Jahren zu vergleichen, in der es „viele kaum mehr abwarten konnten, endlich mit den anderen abzurechnen“. Zum anderen verfüge das Land über „nichts mehr, mit dem wir uns noch bekriegen könnten: weder über Panzer, Geschütze oder Helikopter noch über ausreichend Nahrung, Uniformen oder Klopapier für die Soldaten“.
Im Gegensatz zu Bosniens abgetakelten Streitkräften ist Serbiens Armee in den letzten Jahren zwar kräftig mit russischen Altwaffen aufgerüstet worden. Doch selbst wenn Regierungspolitiker gerne über die „serbische Welt“auch jenseits der Landesgrenzen schwadronieren, scheint Belgrad weder an einem Waffengang noch an einer Sezession, sondern eher am wachsenden Einfluss in Bosnien interessiert: Auch im Nachbarland gibt Vucic gerne den Feuerwehrmann für selbst entfachte Brände.