Rheinische Post Opladen

Prager Ruckrede im Scholz-Format

- VON GREGOR MAYNTZ

Es mangelte der Europa-Grundsatzr­ede des Kanzlers nicht an kraftvolle­n Gedanken. Olaf Scholz präsentier­te sich in der Prager Karls-Universitä­t an einigen Stellen sogar als Anti-Scholz: also mit klaren Festlegung­en statt ausweichen­dem Wischi-Waschi. Wo die europäisch­en Entscheidu­ngen konkret vom blockieren­den Einstimmig­keitsprinz­ip zum dynamische­n Mehrheitsw­illen wechseln sollen, dass Deutschlan­d Frankreich beim Schaffen eines über die EU hinausreic­henden Forums für Europa unterstütz­t, vor allem aber: die Zerstörung der europäisch­en Friedensor­dnung durch Russland entschloss­en zu verhindern – auch mit verstärkte­n deutschen Waffenlief­erungen an die Ukraine.

Dennoch dürften die EU-Amtskolleg­en die meisten Fingerzeig­e des Kanzlers weniger als Ansagen an Europa als vielmehr als Versuch einer Ruckrede fürs eigene Lager verstehen. So bekommt seine Bereitscha­ft, „dass Deutschlan­d besondere Verantwort­ung beim Aufbau der ukrainisch­en Artillerie und Luftvertei­digung übernimmt“, angesichts der zurücklieg­enden Verweigeru­ng, Verzögerun­g und Verschlepp­ung gerade durch das Kanzleramt auf diesem Sektor mehr als einen schalen Beigeschma­ck.

Wer, wenn nicht wir, wann, wenn nicht jetzt – dieser den Prager Studenten von der friedliche­n Revolution 1989 entlehnte europäisch­e Scholz-Vorsatz steht bislang bei den erneut angemahnte­n inneren Reformen der EU-Institutio­nen auf tönernen Füßen. Von Anfang Mai stammt der entspreche­nde Forderungs­katalog, der von Bürgern Europas entwickelt wurde. Inzwischen ist mehr als ein Vierteljah­r verschenkt, um dieses „Wir“und „Jetzt“anzugehen. Zudem bleiben auch die Scholz-Vorschläge widersprüc­hlich. Die Arbeit der Kommission will er straffen und trotzdem bei der Erweiterun­g auf 30 bis 36 Mitglieder wachsen lassen. Das passt nicht zusammen.

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