Prager Ruckrede im Scholz-Format
Es mangelte der Europa-Grundsatzrede des Kanzlers nicht an kraftvollen Gedanken. Olaf Scholz präsentierte sich in der Prager Karls-Universität an einigen Stellen sogar als Anti-Scholz: also mit klaren Festlegungen statt ausweichendem Wischi-Waschi. Wo die europäischen Entscheidungen konkret vom blockierenden Einstimmigkeitsprinzip zum dynamischen Mehrheitswillen wechseln sollen, dass Deutschland Frankreich beim Schaffen eines über die EU hinausreichenden Forums für Europa unterstützt, vor allem aber: die Zerstörung der europäischen Friedensordnung durch Russland entschlossen zu verhindern – auch mit verstärkten deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine.
Dennoch dürften die EU-Amtskollegen die meisten Fingerzeige des Kanzlers weniger als Ansagen an Europa als vielmehr als Versuch einer Ruckrede fürs eigene Lager verstehen. So bekommt seine Bereitschaft, „dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt“, angesichts der zurückliegenden Verweigerung, Verzögerung und Verschleppung gerade durch das Kanzleramt auf diesem Sektor mehr als einen schalen Beigeschmack.
Wer, wenn nicht wir, wann, wenn nicht jetzt – dieser den Prager Studenten von der friedlichen Revolution 1989 entlehnte europäische Scholz-Vorsatz steht bislang bei den erneut angemahnten inneren Reformen der EU-Institutionen auf tönernen Füßen. Von Anfang Mai stammt der entsprechende Forderungskatalog, der von Bürgern Europas entwickelt wurde. Inzwischen ist mehr als ein Vierteljahr verschenkt, um dieses „Wir“und „Jetzt“anzugehen. Zudem bleiben auch die Scholz-Vorschläge widersprüchlich. Die Arbeit der Kommission will er straffen und trotzdem bei der Erweiterung auf 30 bis 36 Mitglieder wachsen lassen. Das passt nicht zusammen.