Scholz unter Strom
Die Reise zum Nachbarland Tschechien wird zur Vorbereitung einer Energiepreisbremse in der EU. In einer Rede an der geschichtsträchtigen Karls-Universität präsentiert der Bundeskanzler zudem Ideen zur Zukunft Europas.
PRAG/BRÜSSEL Beim Flug Richtung Westen galt in der Kanzler-Maschine wegen der PCR-Testpflicht aller Mitreisenden keine Masken-Auflage. Als Olaf Scholz eine Woche später Richtung Osten startet, reichen weder PCR- noch zusätzlicher Schnelltest: die Masken müssen wieder auf Mund und Nase. Das sei „mit Blick auf die öffentliche Debatte“nach der Kanada-Reise für die Tschechien-Reise entschieden worden, erläutert ein Regierungssprecher. Der Kanzler reagiert also auf kommunikativen Druck. Wenig später wird in Prag klar, wie sehr ihn erst die Strompreis-Entwicklung unter Druck setzt.
Der Routine-Antrittsbesuch unter Regierungschefs benachbarter und befreundeter Länder wird so in Teilen zu einem Krisentreffen. Gastgeber Petr Fiala hat unter den EU-Staatsund Regierungschefs gerade den Hut auf, stimmt sich ständig mit EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor allem über die Energiepreisentwicklung ab und verkündet nach dem Gespräch mit Scholz ein Sondertreffen der EU-Energieminister am 9. September. „Schnell“würden nun Maßnahmen ergriffen, kündigt auch der Kanzler an. Aber er will partout nicht sagen, welche es denn sein sollen. Selbst auf die Frage nach einem Preisdeckel wiederholt er nur seine Einschätzung, dass weder die Herstellungskosten noch das Prinzip von Angebot und Nachfrage die aktuellen Strompreise rechtfertigten.
Mehrfach hat er sich da bereits auf die Schulter geklopft, die Gasspeicherung und Energieeinsparungen gelobt und hervorgehoben, dass die in aller Eile errichteten Terminals für Schiffe mit Flüssiggas an deutschen Küsten auch für EU-Partner entstünden. Dabei blickt er zu Fiala. Der nickt, aber belässt es nicht bei der Zustimmung, sondern gibt zu Protokoll, dass sein Land es begrüßen würde, wenn Deutschland seine drei letzten Atommeiler länger am Netz ließe. Auch wegen der Vorsätze bei den Klimazielen will Tschechien den Anteil von Atomstrom noch erhöhen.
„Breiten Raum“habe das EnergieThema bei dem Treffen eingenommen, berichten beide Regierungschefs. Das heißt im Umkehrschluss, dass der zentrale Programmpunkt des Vormittags auf dieser Ebene wohl ähnlich kärglich behandelt wird wie am Ort des Geschehens selbst: Während der über 50-minütigen europapolitischen Grundsatzrede des Kanzlers an der geschichtsträchtigen Karls-Universität gibt es nur am Schluss ein wenig höflichen Applaus, keine Fragen, keine Diskussion. Und so scheint denn erst einmal zu verpuffen, was Scholz mit teilweise ungewöhnlicher Klarheit zur Zukunft Europas an Ideen ausbreitet.
Es ist der Versuch, das von ihm kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine geprägte Wort von der „Zeitenwende“auf die Europa-Ebene zu übertragen und Schlussfolgerungen zu konkretisieren. Scholz erinnert daran, dass Tschechen genauso wie Slowaken, Balten, Polen, Rumänen und Bulgaren nach dem Zweiten Weltkrieg von der „Landkarte des Westens“und „hinter dem Eisernen Vorhang“verschwunden waren – und diese bitteren Erfahrungen bis heute nachwirkten. Nun habe sich Putin daran gemacht, erneut Grenzen in Europa brutal zu verschieben. Scholz will das nicht hinnehmen: „Wir wollen nicht zurück ins 19. und 20. Jahrhundert mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen.“
Daraus entwickelt Scholz neue Herausforderungen und nimmt sich selbst in die Pflicht: Um die ukrainischen Streitkräfte in die Lage zu versetzen, ihr Land dauerhaft verteidigen zu können, „dürfen wir alle nicht nur das an Kiew liefern, worauf wir selbst gerade verzichten können“. Zugleich bietet er an, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt. Gleichzeitig will er Lücken in der Verteidigung der EU-Länder schließen – etwa durch den Aufbau eines Schutzschildes gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum. Deutschland werde den geplanten Ausbau seiner Luftverteidigung so gestalten, dass sich auch die europäischen Nachbarn daran beteiligen könnten.
Bereits zu Jahresbeginn hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Gedanken einer europäischen politischen Gemeinschaft entwickelt, um Nicht-Mehr-Mitglieder wie Großbritannien, NochNicht-Mitglieder wie die Ukraine und andere Nicht-EU-Staaten Europas zusammenzubringen. Acht Monate später gibt Scholz dafür grünes Licht aus Deutschland.
Eine Reihe von Vorschlägen entwickelt der Kanzler zudem zur inneren Reform der EU angesichts der bevorstehenden und von ihm geförderten Erweiterung. Für ihn zentral sind mehr Mehrheits- statt Einstimmigkeitsentscheidungen. Kleinere Länder tun sich schwer mit dem Verlust ihrer Vetomacht. Prompt sagt auch Gastgeber Fiala, er sei da „zurückhaltend“. Eine Europa-Rede endet in der Europa-Stadt ohne EuropaBegeisterung.