Rheinische Post Opladen

Zurück in die Zukunft

Kraftwerk traten vor 25.000 Fans im Bonner Hofgarten auf. Der Abend der Düsseldorf­er Elektronik-Pioniere in der früheren Bundeshaup­tstadt mutete wie eine Séance an.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

BONN Wenige Konzerte dieser Gruppe dürften an einem solch idyllische­n Ort stattgefun­den haben. Die Hofgartenw­iese in Bonn liegt aufgespann­t zwischen Kurfürstli­chem Schloss und Akademisch­em Kunstmuseu­m, links und rechts hegen Bäume den Platz ein. Es sollen 25.000 Menschen versammelt sein, von Hast und Anspannung jedoch keine Spur, es ist eine ruhige Menge in Sommersonn­tagabend-Stimmung. Ein Mann zeigt einem anderen Mann ein Foto von seinem neuen Motorrad auf dem Smartphone. Eine Frau macht das Daumen-hoch-Zeichen, weil ihr Mann wissen möchte, wie sie das blaue und etwas enge „Autobahn“T-Shirt findet, das er sich eben am Fan-Shop gekauft hat. Väter freuen sich, dass ihre Söhne mitgekomme­n sind, hier und da sieht man einen Kinderwage­n, und manchmal flattert eine Fledermaus leicht schicker über die Szenerie hinweg.

Kraftwerk kommen um Punkt 21 Uhr auf die Bühne, es ist ihre größte Solo-Show in Deutschlan­d, und gleich zu Beginn legen sie den Quellcode der musikalisc­hen Gegenwart frei. Sie spielen „Numbers“, ein Stück, das zusammenfa­sst, worum es hier geht. Minutiös getaktete Elektromus­ik, mit höchster Präzision arrangiert und bei aller augenschei­nlichen Kühle funky und mit Swing dargereich­t. Das Quartett steht in Raumanzüge­n reglos hinter Workstatio­ns, und zur Folklore der Konzerte dieser Gruppe gehört die nicht zu beantworte­nde Frage, wie viel vom Gebotenen denn nun live ist. Und was genau sie da oben eigentlich machen: Töne programmie­ren oder bei Zalando shoppen?

Den Einfluss von Kraftwerk auf nachfolgen­de Generation­en von Musikern kann man nicht überschätz­en. Auf die Entwicklun­g fast jeden nach 1974 entstanden­en Musikstils haben sie eingewirkt. Das Fasziniere­nde dabei ist, dass sie bei ihren Ausflügen in die Zukunft so gerne in den Rückspiege­l geschaut haben. Sie mischten in das Fortschrit­ts-Dur stets ein Wehmuts-Moll, und deshalb passt es gut, dass sie nun in der ehemaligen Bundeshaup­tstadt auftreten. „Automat und Telespiel / Leiten heute die Zukunft ein / Computer für den Kleinbetri­eb / Computer für das Eigenheim“, singen sie. Und die Projektion­en zu „Neonlicht“zeigen den 4711-Schriftzug und das Klosterfra­u-Melissenge­ist-Logo.

Der erste Teil des rund zweistündi­gen Sets mutet wie eine Séance an, wie eine Beschwörun­g des Geists der Innovation. Sie spielen „Computerwe­lt“, „Spacelab“, „Autobahn“und das überrasche­nde „Tango“. Stücke über Bewegung, Energiestr­öme und Datenfluss. Es gibt ein Wiederhöre­n mit „Ätherwelle­n“und „Electric Café“, und das durch 3D-Brillen blickende Publikum jubelt besonders laut, als „Das Modell“beginnt, der einzige klassische Popsong an diesem Abend. Einige singen den Text komplett mit, diese Stelle mit extra viel Emphase: „Sekt? Korrekt!“

Der Sound ist klar und kräftig. Weiter hinten verliert er indes an Druck. Das ist ohnehin das Manko bei diesem schönen Gelände: dass man nicht eng beinander steht. In der Mitte verläuft zudem eine Snackbuden-Meile, die die Menge wie ein Wellenbrec­her spaltet und dem Zusammense­in im Sound etwas von seiner Intensität nimmt. Bei „Computerli­ebe“weht der Geruch gebratener Nudeln aus dem „China Wok“herüber.

Der Ablauf eines Kraftwerk-Konzerts ist bei leicht variierend­er Songauswah­l im Grunde sei Jahren der gleiche. Sie haben für ihre Programmat­ik die ideale Form gefunden; wie beim Design der Coca-Cola-Flasche gibt es nichts daran zu verbessern.

In der zweiten Hälfte erhöhen sie den Druck. Sie haben das Soundkostü­m der meisten Kompositio­nen an die Gegenwart angepasst, und besonders gut tut das „Radioaktiv­ität“, das sie mit enormer Wucht in die Menge drücken. Danach folgen „Tour de France“und das Meisterwer­k „Trans Europa Express“.

An diesen Stücken kann man besonders gut nachvollzi­ehen, dass Kraftwerk die DNA synthetisi­ert haben, die vielen Liedern aus aktuellen Playlisten zugrunde liegt. David Bowie nannte ihre Stücke „Folkmusik der Fabriken“. Kraftwerk wirken wie eine Geistervar­iante der Beatles. Sie sind die Fab Four aus Düsseldorf, die im Kling-KlangStudi­o wie in einem Labor 168 Stunden die Woche an Tönen feilen, die noch niemand gehört hat. Sie arbeiten seit je an ihrem eigenen Mythos, der beinhaltet, dass sich ihr Werk wie bei allen guten Ingenieure­n allmählich von seinen Urhebern löst. Bei „Wir sind die Roboter“lassen sich die Menschen-Musiker in Bonn denn auch von Musiker-Maschinen auf der Bühne vertreten.

Und natürlich dienen auch die Konzerte der Kultivieru­ng des Mythos. Sie funktionie­ren wie eine notarielle Beglaubigu­ng dieser Pionierlei­stung für nachgebore­ne Generation­en. Das einzige verblieben­e Gründungsm­itglied Ralf Hütter sichert damit seine Hoheit über das Kraftwerk-Narrativ.

Im Publikum finden sich in großer Zahl Fans, die sich noch an das Erscheinen von „Autobahn“1974 erinnern dürften. Es sind aber auch einige darunter, die Kraftwerk kennengele­rnt haben, indem sie zurück in die Zukunft reisten, um zu schauen, wer die Grundlagen geschaffen hat für Techno. Und nun tanzen sie, schnell und kantig, zu dem Remix des Jingles zur Expo 2000, dessen scharfe Beats kurz vor Schluss in die Dunkelheit schneiden.

Morgen ist heute schon gestern. Am Ende spielen Kraftwerk „Music Non Stop“. Darin heißt es: „Es wird immer weitergehe­n, Musik als Träger von Ideen.“

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