Zurück in die Zukunft
Kraftwerk traten vor 25.000 Fans im Bonner Hofgarten auf. Der Abend der Düsseldorfer Elektronik-Pioniere in der früheren Bundeshauptstadt mutete wie eine Séance an.
BONN Wenige Konzerte dieser Gruppe dürften an einem solch idyllischen Ort stattgefunden haben. Die Hofgartenwiese in Bonn liegt aufgespannt zwischen Kurfürstlichem Schloss und Akademischem Kunstmuseum, links und rechts hegen Bäume den Platz ein. Es sollen 25.000 Menschen versammelt sein, von Hast und Anspannung jedoch keine Spur, es ist eine ruhige Menge in Sommersonntagabend-Stimmung. Ein Mann zeigt einem anderen Mann ein Foto von seinem neuen Motorrad auf dem Smartphone. Eine Frau macht das Daumen-hoch-Zeichen, weil ihr Mann wissen möchte, wie sie das blaue und etwas enge „Autobahn“T-Shirt findet, das er sich eben am Fan-Shop gekauft hat. Väter freuen sich, dass ihre Söhne mitgekommen sind, hier und da sieht man einen Kinderwagen, und manchmal flattert eine Fledermaus leicht schicker über die Szenerie hinweg.
Kraftwerk kommen um Punkt 21 Uhr auf die Bühne, es ist ihre größte Solo-Show in Deutschland, und gleich zu Beginn legen sie den Quellcode der musikalischen Gegenwart frei. Sie spielen „Numbers“, ein Stück, das zusammenfasst, worum es hier geht. Minutiös getaktete Elektromusik, mit höchster Präzision arrangiert und bei aller augenscheinlichen Kühle funky und mit Swing dargereicht. Das Quartett steht in Raumanzügen reglos hinter Workstations, und zur Folklore der Konzerte dieser Gruppe gehört die nicht zu beantwortende Frage, wie viel vom Gebotenen denn nun live ist. Und was genau sie da oben eigentlich machen: Töne programmieren oder bei Zalando shoppen?
Den Einfluss von Kraftwerk auf nachfolgende Generationen von Musikern kann man nicht überschätzen. Auf die Entwicklung fast jeden nach 1974 entstandenen Musikstils haben sie eingewirkt. Das Faszinierende dabei ist, dass sie bei ihren Ausflügen in die Zukunft so gerne in den Rückspiegel geschaut haben. Sie mischten in das Fortschritts-Dur stets ein Wehmuts-Moll, und deshalb passt es gut, dass sie nun in der ehemaligen Bundeshauptstadt auftreten. „Automat und Telespiel / Leiten heute die Zukunft ein / Computer für den Kleinbetrieb / Computer für das Eigenheim“, singen sie. Und die Projektionen zu „Neonlicht“zeigen den 4711-Schriftzug und das Klosterfrau-Melissengeist-Logo.
Der erste Teil des rund zweistündigen Sets mutet wie eine Séance an, wie eine Beschwörung des Geists der Innovation. Sie spielen „Computerwelt“, „Spacelab“, „Autobahn“und das überraschende „Tango“. Stücke über Bewegung, Energieströme und Datenfluss. Es gibt ein Wiederhören mit „Ätherwellen“und „Electric Café“, und das durch 3D-Brillen blickende Publikum jubelt besonders laut, als „Das Modell“beginnt, der einzige klassische Popsong an diesem Abend. Einige singen den Text komplett mit, diese Stelle mit extra viel Emphase: „Sekt? Korrekt!“
Der Sound ist klar und kräftig. Weiter hinten verliert er indes an Druck. Das ist ohnehin das Manko bei diesem schönen Gelände: dass man nicht eng beinander steht. In der Mitte verläuft zudem eine Snackbuden-Meile, die die Menge wie ein Wellenbrecher spaltet und dem Zusammensein im Sound etwas von seiner Intensität nimmt. Bei „Computerliebe“weht der Geruch gebratener Nudeln aus dem „China Wok“herüber.
Der Ablauf eines Kraftwerk-Konzerts ist bei leicht variierender Songauswahl im Grunde sei Jahren der gleiche. Sie haben für ihre Programmatik die ideale Form gefunden; wie beim Design der Coca-Cola-Flasche gibt es nichts daran zu verbessern.
In der zweiten Hälfte erhöhen sie den Druck. Sie haben das Soundkostüm der meisten Kompositionen an die Gegenwart angepasst, und besonders gut tut das „Radioaktivität“, das sie mit enormer Wucht in die Menge drücken. Danach folgen „Tour de France“und das Meisterwerk „Trans Europa Express“.
An diesen Stücken kann man besonders gut nachvollziehen, dass Kraftwerk die DNA synthetisiert haben, die vielen Liedern aus aktuellen Playlisten zugrunde liegt. David Bowie nannte ihre Stücke „Folkmusik der Fabriken“. Kraftwerk wirken wie eine Geistervariante der Beatles. Sie sind die Fab Four aus Düsseldorf, die im Kling-KlangStudio wie in einem Labor 168 Stunden die Woche an Tönen feilen, die noch niemand gehört hat. Sie arbeiten seit je an ihrem eigenen Mythos, der beinhaltet, dass sich ihr Werk wie bei allen guten Ingenieuren allmählich von seinen Urhebern löst. Bei „Wir sind die Roboter“lassen sich die Menschen-Musiker in Bonn denn auch von Musiker-Maschinen auf der Bühne vertreten.
Und natürlich dienen auch die Konzerte der Kultivierung des Mythos. Sie funktionieren wie eine notarielle Beglaubigung dieser Pionierleistung für nachgeborene Generationen. Das einzige verbliebene Gründungsmitglied Ralf Hütter sichert damit seine Hoheit über das Kraftwerk-Narrativ.
Im Publikum finden sich in großer Zahl Fans, die sich noch an das Erscheinen von „Autobahn“1974 erinnern dürften. Es sind aber auch einige darunter, die Kraftwerk kennengelernt haben, indem sie zurück in die Zukunft reisten, um zu schauen, wer die Grundlagen geschaffen hat für Techno. Und nun tanzen sie, schnell und kantig, zu dem Remix des Jingles zur Expo 2000, dessen scharfe Beats kurz vor Schluss in die Dunkelheit schneiden.
Morgen ist heute schon gestern. Am Ende spielen Kraftwerk „Music Non Stop“. Darin heißt es: „Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen.“