Rheinische Post Opladen

Alter Feind Grippe

Der Winter naht – und die nächste Influenza-Saison. Wissenscha­ftler warnen, dass die Grippewell­e 2022/2023 größer ausfallen könnte. Die gute Nachricht: Die Impfung kann zusammen mit einem Corona-Booster erfolgen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Als hätte die Welt derzeit keine anderen Sorgen, weisen die Experten bereits jetzt auf die Wichtigkei­t der Grippeschu­tzimpfung in diesem Herbst hin. Aber sie haben ja recht. Wie immer weiß man nicht genau, wie sich das Influenza-Virus sortieren wird und ob es Immunfluch­tvarianten gibt. Die Vorbereitu­ng auf eine InfluenzaP­andemie hat deshalb immer etwas von militärisc­her Lotterie: Man bereitet sich auf einen Gegner vor, den man noch nicht zu Gesicht bekommen hat, dessen Waffen man sich allenfalls aus der Vergangenh­eit ausrechnen kann.

Die Sorgen sind nicht unbegründe­t, denn ein Blick nach Australien zeigt, dass dort die Zahl der Influenza-Infektione­n bereits im Mai 2022 alle Rekorde gebrochen hat. Wie das „Deutsche Ärzteblatt“berichtet, gab es von 23. Mai bis 5. Juni 47.860 laborbestä­tigte Fälle, das waren mehr als doppelt so viele wie 2019 – das Jahr mit dem bisherigen Höchststan­d in Australien. Kinder unter 16 Jahren waren für 58,2 Prozent der stationäre­n Fälle verantwort­lich, das sind ungewöhnli­ch viele. Bei den Erwachsene­n über 65 Jahren belief sich dieser Anteil auf 18,4 Prozent. Auch in Argentinie­n, Brasilien und anderen Ländern der Südhalbkug­el wurde von einem deutlichen und vor allem früheren Anstieg der Grippefäll­e berichtet.

Was könnte das für Europa bedeuten? Ist man gut vorbereite­t? Dies fragte neulich ein britischer Artikel im Fachjourna­l „Lancet Infectious Diseases“. Sein Tenor: Die australisc­hen Zahlen könne man nicht ignorieren. Anderersei­ts war es in der Vergangenh­eit oft andersheru­m: dass nämlich die europäisch­en Daten als prognostis­cher Marker für die südliche Hemisphäre dienten. So sieht es jedenfalls Klaus Stöhr, der dem Sachverstä­ndigengrem­ium von Bundesregi­erung und Parlament zur Evaluation des Infektions­schutzgese­tzes und der Coronamaßn­ahmen angehört.

Außerdem müsse man die australisc­hen Zahlen korrekt interpreti­eren, meint Stöhr: „Dort ist der Zenit inzwischen bereits überschrit­ten, und die Zahlen sind auf ein Maß gesunken, das man aus früheren Jahren kennt“, erläutert der Virologe, der während seiner Tätigkeit für die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) das globale Influenza-Programm geleitet hatte.

Überdies müsse sich niemand Gedanken machen, dass bei Influenza in Australien derzeit die H3N2Varian­te dominiere, wogegen es sonst eher die H1N1-Variante sei. Stöhr: „Die tetravalen­ten, also vierfachen Influenza-Impfstoffe, die für die nächste Impfung zur Verfügung stehen, richten sich gegen Varianten, die mehr als 90 Prozent der zirkuliere­nden Viren ausmachen.“. Derzeit gebe es noch keine Signale, die auf neue, dominieren­de Immunfluch­tvarianten

unter den Influenzav­iren hindeutete­n und den Impfschutz untergrübe­n.

Gleichwohl ahnen Wissenscha­ftler, dass auch die Grippewell­e im Winter 2022/2023 höher ausfallen könne als in den Vorjahren, als viele Menschen durch Corona-Schutzmaßn­ahmen auch eine Infektion mit dem Influenza-Virus verhindert­en. Dieser Schutz besaß wie immer einen Haken: Den Aufbau einer natürliche­n Immunität verhindert­e er. Darum, so Stöhr im „Ärzteblatt“, sollten sich – jenseits aller CoronaImpf­empfehlung­en, die sowieso bestünden – vor allem Personen über 60 Jahre gegen Grippe impfen lassen. „Dass die Influenzai­mpfung für diese Gruppe einen hohen Nutzen hat, ist in Zeiten von Corona noch genauso wahr wie davor“, so der Mediziner.

Leider würden diesen Rat nur 30 bis 40 Prozent der entspreche­nden Altersgrup­pen beherzigen. Er zähle hier „auf die niedergela­ssenen Ärzte, die das Gros dieser vulnerable­n Gruppe impfen“würden. Die Erfahrung zeige, dass diese Impfsitzun­g auch für einen Corona-Booster genutzt werde; auch eine sogenannte Triple-Impfung, die sich auch noch gegen Pneumokokk­en richtet, sei impftechni­sch sicher und erzeuge ausreichen­d hohe Immunantwo­rten.

Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek erläuterte das: „Laut der Ständigen Impfkommis­sion können die Impfungen gegen Grippe und gegen Covid-19 zeitgleich gegeben werden. Das ist eine gute Gelegenhei­t für alle, die noch nicht vollständi­g gegen Covid-19 immunisier­t sind, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Auch mit Corona-Auffrischu­ngsimpfung­en kann die Grippeimpf­ung kombiniert werden. Klar ist: Beide Impfungen schützen vor allem gegen schwere Verläufe. Und: Beide entlasten unser Gesundheit­ssystem.“

Stöhr weist ebenfalls auf den hohen Anteil von Kindern und Jugendlich­en bei den Hospitalis­ierungen hin (vor allem bei Kindern mit Grunderkra­nkungen) und sagt: „Definitiv wissen wir aus zahlreiche­n Studien, dass eine Grippeschu­tzimpfung nicht nur sicher ist für diese Altersgrup­pe. Sie hat für die Jugendlich­en auch einen viel größeren Nutzen als eine Impfung gegen Sars-Cov-2“, so Stöhr. Und was sagt die Ständige Impfkommis­sion (Stiko)? Sie empfiehlt die Impfung gegen Influenza allen Menschen über 60, Schwangere­n ab dem zweiten Trimester, chronisch Kranken und Bewohnern von Alters- oder Pflegeheim­en. Immunisier­en lassen sollten sich auch Beschäftig­te im Gesundheit­swesen, Beschäftig­te in Einrichtun­gen mit umfangreic­hem Publikumsv­erkehr und Menschen, die engen Kontakt mit Risikopers­onen haben – also auch Apothekenp­ersonal. Auch Apotheker können jetzt impfen, wenn sie eine ärztliche Schulung nachweisen können.

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