Jede fünfte Online-Sexualtat nicht aufgeklärt
Die nordrhein-westfälischen Ermittlungsbehörden registrierten in einem Jahr fast 1200 Fälle sexualisierter digitaler Gewalt. Die Täter gehen oft mit großer krimineller Energie vor. Die Opposition vermutet eine hohe Dunkelziffer.
Die Strafverfolger in Nordrhein-Westfalen haben 2021 nach einer aktuellen Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik insgesamt 1198 „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Internet“registriert. 940 der angezeigten Fälle von sexualisierter, digitaler Gewalt konnten aufgeklärt werden – 78,5 Prozent. Die Zahlen gehen aus der Antwort von Justizund Innenministerium auf eine Anfrage der SPD-Landtagsfraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Nicht enthalten sind in dieser Statistik laut Innenministerium Verbreitung, Erwerb und Besitz von Inhalten, die sexuellen Missbrauch an Kindern zeigen sowie Beleidigung auf sexueller Grundlage. Diese würden nicht als Opferdelikte erfasst.
Am häufigsten wurde das „Einwirken auf Kinder“nach dem inzwischen mehrfach reformierten Paragrafen 176 des Strafgesetzbuches registriert. Dieses kann etwa dann vorliegen, wenn der Täter versucht, das Kind über Chats, Messengerdienste, SMS, per Videotelefonie oder soziale Medien zu sexuellen Handlungen zu bewegen oder es durch Pornografie dazu zu bewegen, solche Handlungen an sich oder anderen vorzunehmen. Von den 1088 Fällen wurden 861 aufgeklärt.
Sexualisierte, digitale Gewalt gebe es in allen Bereichen des Internets. „Täter können anonym und zielgerichtet in Chaträumen oder über Onlinespiele Kontakt zu Kindern und erwachsenen Opfern aufnehmen“, schreibt das Ministerium von Herbert Reul (CDU). „Sie bereiten durch sogenanntes Grooming ihre Taten vor.“Dabei gewinnen die Täter zunächst das Vertrauen des Opfers, anschließend manipulieren sie es und suggerieren eine Mitverantwortung für die späteren Taten. „Sie üben psychischen Druck aus, drohen den Opfern und fordern Geheimhaltung.“
„Sextortion“beschreibe eine Vorgehensweise, bei der ein Täter oder eine Täterin drohe, Nacktfotos oder intime Videos eines Menschen zu veröffentlichen, um ihn zu erpressen. „Werden anzügliche oder obszöne Chat-Nachrichten verschickt, handelt es sich um Beleidigungen auf sexueller Basis. Das Versenden sogenannter Dick-Pics (Penis-Fotos) erfülle den Straftatbestand der Verbreitung pornografischer Inhalte. „Neben den aufgeführten Handlungsformen
wird sexualisierte, digitale Gewalt ebenso durch die Erstellung von Hasskommentaren, sexistische Beleidigungen und Mobbing begangen“, so das Ministerium.
Anja Butschkau, Sprecherin für Gleichstellung und Frauen der SPDLandtagsfraktion, geht von deutlich mehr als 1200 Fällen aus. „Die geringen Zahlen der zur Anzeige gebrachten Straftaten decken sich nicht mit den Erfahrungen der Mehrheit junger Frauen und Mädchen.“Butschkau verweist auf eine Studie der Landesanstalt für Medien NRW mit dem Titel „Kinder und Jugendliche als Opfer von Cybergrooming“.
Demnach wurden mehr als 2000 Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 18 Jahren befragt. Knapp ein Viertel dieser Kinder und Jugendlichen gab an, online schon eine erwachsene Person kennengelernt zu haben und von dieser auch nach einem realen Treffen gefragt worden zu sein. „Nach einer weiteren Studie von Plan International von 2020 haben 70 Prozent der befragten Mädchen
und Frauen aus Deutschland Bedrohung, Beleidigung und Diskriminierung im Netz erlebt. Im Rückschluss müssen wir also von einem großen Dunkelfeld ausgehen, das nicht zur Anzeige gebracht wird“, so die SPD-Politikerin. Sie zeigte sich enttäuscht über die Antwort der beiden Ministerien. „Leider liefert uns die Antwort der Landesregierung auch keine Angaben darüber, ob die wenigen zur Anzeige gebrachten Fälle sexualisierter Gewalt in einer Verurteilung der Straftäter mündeten. Wir fordern deshalb eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themenbereichs.“
Man müsse wissen, welches Ausmaß sexualisierte Gewalt im Internet habe und vor allem wie es sich auf die Opfer auswirke. „Die vorhandenen Präventions- und Hilfsmaßnahmen wollen wir einer Evaluation unterziehen. Unser Ziel ist ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Internet, damit wir Mädchen und Frauen endlich wirkungsvoller vor solch schrecklichen Erfahrungen schützen.“