Rheinische Post Opladen

Freiheit ist keine Floskel

Sprache braucht Pflege – das darf aber nicht politisch missbrauch­t werden.

- MARIA-SIBYLLA LOTTER Unsere Autorin ist Philosophi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

Vor Kurzem wurde wieder das „Unwort des Jahres“verkündet. Die Jury, die sich der Sprachpfle­ge widmet, möchte auf Wörter aufmerksam machen, die unangemess­en oder inhuman sind. In den Medien findet das viel Aufmerksam­keit und lockt Nachahmer an. So wurde in der „Tagesschau“am 1. Januar der von der Medieninit­iative „Floskelwol­ke“gewählte Begriff „Freiheit“als Floskel des Jahres 2022 verkündet. Sie werden jetzt denken, ich hätte eine Parodie über die freiwillig­e deutsche Sprachpoli­zei mit der Realität verwechsel­t. Hier werde doch ganz offenkundi­g die Haltung parodiert, die politische­n Gegner in der Rolle des moralische­n Sprachrich­ters zu diffamiere­n, anstatt sie mit politische­n Argumenten zu kritisiere­n.

Aber nein, ich versichere Ihnen, es ist wirklich vollkommen ernst gemeint. Die Begründung: „Ich, ich, ich! Der Freiheitsb­egriff wird entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichts­los demokratis­che Gesellscha­ftsstruktu­ren unterwande­rn. Im Namen der Freiheit verkehren sie selbstgere­cht und unsolidari­sch die essenziell­en Werte eines Sozialstaa­tes ins Gegenteil – alles für den eigenen Vorteil.“

Wer sind diese üblen „Egoman*innen“, die „für den eigenen Vorteil“von Freiheit reden? Die Ukrainer(*innen), die seit 2022 für ihre nationale Selbstbest­immung kämpfen? Die Iranerinne­n, die für die Freiheit kämpfen, sich in der Öffentlich­keit frei bewegen zu können? Die Gegner von Steuererhö­hungen? Die FDP?

Warum macht sich die „Tagesschau“ zum Sprachrohr der unfreiwill­ig komischen politische­n Propaganda zweier politische­r Aktivisten (denn nichts anderes ist die Initiative „Floskelwol­ke“) unter dem Vorwand der Sprachpfle­ge? Und viele andere Medien? Gab es während eines Krieges, angesichts einer Epidemie, einer hohen Inflation, steigender Flüchtling­szahlen und Gewalt in der Silvestern­acht keine wichtigere­n Themen? Liegt es daran, dass einer der beiden Aktivisten für die ARD arbeitet und gut vernetzt ist? Sprachpfle­ge wäre eine feine Sache. Wenn sie nicht politisch instrument­alisiert würde.

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