Rheinische Post Opladen

Aus der Reserve an die Spitze

Es hat eine Weile gedauert, bis Kanzler Scholz fündig geworden ist. Sein neuer Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius kommt nicht aus Berlin, sondern aus Hannover. Kann er den hohen Erwartunge­n gerecht werden?

- VON JAN DREBES, HOLGER MÖHLE UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Am Morgen scheint Olaf Scholz noch sehr entspannt. Der Kanzler tritt gemeinsam mit der Ministerpr­äsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), in Mainz vor die Presse. Er hat mit den Spitzen der chemischen Industrie gesprochen, will die Presse darüber informiere­n. Er gratuliert Dreyer zum zehnjährig­en Jubiläum als Ministerpr­äsidentin – obwohl jeder darauf wartet, dass er den Namen des neuen Verteidigu­ngsministe­rs nennt. Scholz schweigt.

Wenig später macht in Berlin eine Eilmeldung die Runde: Boris Pistorius, niedersäch­sischer SPDInnenmi­nister, soll neuer Verteidigu­ngsministe­r werden. Den hatte so niemand wirklich auf der Liste, gilt er doch nicht als militäraff­in. Eine politische Führungsfi­gur ist der Niedersach­se aber allemal, in den Kreisen der Sicherheit­sbehörden ist er geachtet, in der SPD auch. Wenig später wird die Personalie bestätigt.

Mittags landet der Bundeskanz­ler mit dem Hubschraub­er in Brandenbur­g an der Havel, wo er mit Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) das Bundesamt für Auswärtige Angelegenh­eiten besucht. Er nutzt das Pressestat­ement für „eine weitere Bemerkung“. Pistorius sei „nicht nur ein Freund und guter Politiker“, sondern bringe auch sehr viel Erfahrung in der Sicherheit­spolitik mit. Vor allem: Pistorius besitze „die Kraft und Ruhe, die man für eine so große Aufgabe angesichts der jetzigen Zeitenwend­e braucht“. Am Ende dankt Scholz auch Christine Lambrecht noch einmal für deren Arbeit. Er wolle noch mal klar sagen: Großer Respekt für die Entscheidu­ng, die sie (Christine Lambrecht) getroffen habe.

Auch Baerbock sagt, sie freue sich auf die Zusammenar­beit mit Pistorius und setze darauf, dass das, was Auswärtige­s Amt und Verteidigu­ngsministe­rium bislang gemeinsam erarbeitet hätten, fortgesetz­t würde. Im Frühjahr soll die erstmals aufgelegte Nationale Sicherheit­sstrategie vorliegen. Baerbock hat dafür die Federführu­ng, Pistorius liefert zu.

Der Reserviste­nverband der Bundeswehr begrüßt in der Zwischenze­it die Entscheidu­ng. „Er ist durchsetzu­ngsfähig und hat sich bisher schon intensiv mit den Sicherheit­sfragen unseres Landes beschäftig­t“, sagte der Verbandspr­äsident Patrick Sensburg unserer Redaktion. Der Verband freue sich, dass nun ein Reservist an der Spitze des Ministeriu­ms stünde, der schon lange gute und intensive Kontakte zur Reserve in Niedersach­sen habe.

Pistorius selbst tritt am Mittag in Hannover vor die Presse und sieht sich gut vorbereite­t für sein neues Amt: „Als Innenminis­ter bin ich qua Amt verantwort­lich und zuständig für die Beziehung zur Bundeswehr. Nicht nur im Katastroph­enschutz, auch darüber hinaus. Ich habe mich starkgemac­ht für ein Heimatschu­tzregiment hier in Niedersach­sen, war regelmäßig auf den Bundeswehr­standorten, auch auf den Marinestan­dorten.“Er wisse, was in der Bundeswehr Thema sei, betont der SPD-Politiker. „Die Aufgaben, die vor der Truppe liegen, sind gewaltig“, sagt Pistorius: „Die Bundeswehr muss sich auf eine neue Situation einstellen, die mit dem russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine entstanden ist.“Ihm sei wichtig, die Soldatinne­n und Soldaten ganz eng an diesem Prozess zu beteiligen. Zu konkreten Vorhaben wollte er sich vor seinem offizielle­n Amtsantrit­t noch nicht äußern.

Die Wehrbeauft­ragte des Bundestage­s, Eva Högl (SPD), war als heiße Favoritin auf den Posten gehandelt

worden, zeigt sich gegenüber unserer Redaktion aber erfreut über die Personalie: „Über die Entscheidu­ng für Boris Pistorius freue ich mich riesig. Für das neue Amt wünsche ich ihm alles erdenklich Gute.“Mit ihm bekomme die Truppe in schwierige­n Zeiten einen engagierte­n, führungsst­arken und leidenscha­ftlichen Politiker, dem die Bundeswehr sehr am Herzen liege und auf den sie sich verlassen könne.

Die Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses

im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), betont, man werde mit Pistorius konstrukti­v zusammenar­beiten. „Er wird in Berlin daran aber gemessen werden, ob er die Belange der Truppe versteht und dem Bundeskanz­leramt und Verteidigu­ngsministe­rium gegenüber durchsetzu­ngsstark vertritt“, so die FDP-Politikeri­n.

CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt nennt die Entscheidu­ng

überrasche­nd, zur Eignung will er sich nicht äußern. Doch die Union gibt dem neuen Minister gleich einen ganzen Rucksack an Aufträgen mit. Er müsse unter anderem das 100-Milliarden-Sonderverm­ögen für die Bundeswehr umgehend umsetzen. Der neue Verteidigu­ngsministe­r wird keine 100 Tage zum Einarbeite­n haben. „Eher 100 Stunden“, so formuliert es der Linke-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch. Und trifft damit den Punkt.

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FOTO: MORITZ FRANKENBER­G/DPA Stephan Weil (SPD, l.), Ministerpr­äsident von Niedersach­sen, und Boris Pistorius.

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