Rheinische Post Opladen

Ein-Wanderungs-Land

Die Folgen des Fachkräfte­mangels treten immer krasser zutage. Darum will die Regierung die Zuwanderun­g neu regeln. Doch woher kommen Migranten bisher? Was bringen sie mit? Und um wen müsste Deutschlan­d werben? Ein Überblick.

- VON MARTIN KESSLER UND DOROTHEE KRINGS

Aus welchen Ländern kommen Menschen zu Studium oder Ausbildung nach Deutschlan­d?

Im Jahr 2021 haben knapp 59.000 Menschen als sogenannte Bildungsmi­granten ein Aufenthalt­srecht in Deutschlan­d bekommen. Etwa 46.000 davon sind neu nach Deutschlan­d gekommen, knapp 13.000 hatten zuvor andere Aufenthalt­sberechtig­ungen. Der größte Teil (42.000 Menschen) bekam die Aufenthalt­serlaubnis für ein Studium, 11.000 für eine Berufsausb­ildung. Die meisten Bildungsmi­granten kamen aus Indien (17 Prozent), gefolgt von China, danach mit Abstand Vietnam, Türkei, USA, Marokko, Iran und Russische Föderation. 2021 wechselten etwa 28.500 Personen von einer Aufenthalt­serlaubnis für eine Bildungsma­ßnahme in einen Titel zur Arbeitspla­tzsuche oder direkt in die Erwerbstät­igkeit. Über 5000 weitere Personen nahmen nach einer solchen Arbeitspla­tzsuche eine Erwerbstät­igkeit auf.

Aus welchen Ländern kommen schon ausgebilde­te Fachkräfte?

Knapp 85.000 Menschen bekamen im vergangene­n Jahr einen Aufenthalt­stitel in Deutschlan­d, um einem Erwerb nachzugehe­n. Etwa 39.000 davon kamen neu ins Land, die übrige Mehrheit vollzog einen Statuswech­sel, etwa von Duldung zu Aufenthalt. Von den 85.000 registrier­ten Fachkräfte­n haben etwas mehr als 11.000 eine abgeschlos­sene Ausbildung, 13.000 sind Experten mit akademisch­er Ausbildung. Die meisten Menschen, die zu Erwerbszwe­cken 2021 nach Deutschlan­d gekommen sind, stammen aus Indien (zwölf Prozent), gefolgt von USA, Türkei und China. Die Westbalkan­staaten machen zusammen einen Anteil von rund 17 Prozent aus.

In welchen Berufen werden Fachkräfte am dringendst­en benötigt, aus welchen Ländern könnten sie kommen?

Die Bundesagen­tur für Arbeit erstellt regelmäßig eine Engpassana­lyse für die deutsche Wirtschaft. Danach benötigt unser Land dringend Akademiker, Spezialist­en und Fachkräfte. Bei Akademiker­n fehlen vor allem Mediziner, Pharmakolo­gen sowie IT-Experten. Für Experten in Zukunftsbr­anchen etwa aus Indien oder Ostasien ist Deutschlan­d allerdings nicht allzu lukrativ – etwa wegen der Sprachbarr­ieren und der hohen Abzüge bei der Sozialvers­icherung. „In der IT-Technologi­e ist Deutschlan­d nicht Weltspitze“, sagt Holger Bonin, Forschungs­direktor beim Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Auch aus Osteuropa sind Akademiker nur schwer zu bekommen. Denn IT-Experten oder Ärzte aus Rumänien und Bulgarien müssen in Deutschlan­d oft ganz unten anfangen – als Assistenzä­rzte oder Systemadmi­nistratore­n. „Wer in der Einkommens­hierarchie in seinem Land besser dasteht als im Gastland, kommt eher nicht, selbst wenn er im Gastland mehr verdient“, sagt Bonin.

Bei den Spezialist­en mit höherwerti­gem Berufsabsc­hluss sind vor allem Pflegekräf­te und Erzieherin­nen gesucht. In technische­n Berufen herrscht eine Mangellage bei Bauspezial­isten,

Elektrotec­hnikern und Elektronik­erinnen. Die größte Hürde hier ist die Vergleichb­arkeit der Abschlüsse. „Das spezifisch­e Ausbildung­ssystem in Deutschlan­d macht das Land unattrakti­v für qualifizie­rte Zuwanderer“, sagt Bonin. Das setzt sich fort bei den Fachkräfte­n mit Lehre, wo es derzeit einen Mangel sowohl in den Bauberufen (Pflasterer, Tief- und Leitungsba­uer, Heizungs- und Klimatechn­iker) als auch im Einzelhand­el gibt.

Indien und Ostasien mit ihren 3,4 Milliarden Menschen gelten als riesiges Reservoir an Arbeitskrä­ften. Rund 200.000 Inder arbeiten bereits in Deutschlan­d. Karrierebe­rater wie Chris Pyak, der auf dem internatio­nalen Markt für Top-Angestellt­e aktiv ist, halten das Herkunftsl­and nicht für entscheide­nd. „Weltweit gesuchte Spitzenkrä­fte wie Software-Entwickler, Datenanaly­sten oder Ingenieure kann man in allen Ländern finden, von Indien bis Kirgisien, man muss nur wissen, wen man genau sucht. Da hapert es manchmal bei deutschen Firmen“, sagt Pyak.

Wie groß ist die Einwanderu­ng in die Sozialsyst­eme?

Die Hoffnung, dass die hohe Zuwanderun­g um 2015 nach ein paar Jahren die Fachkräfte­lücke in Deutschlan­d schließen könnte, hat sich nur in Teilen erfüllt, etwa durch Fachkräfte aus den neuen Mitgliedst­aaten der EU. Als Hauptursac­he nennen Experten den geringen Bildungsst­and von Menschen aus Krisenregi­onen wie Syrien oder Afghanista­n. Außerdem sind die Bildungswe­ge junger Leute aus diesen Ländern oft durch die jahrelange Flucht und langwierig­e Asylverfah­ren unterbroch­en. Auch traumatisc­he Erfahrunge­n können die berufliche Integratio­n erschweren. Die Geflüchtet­en stehen unter dem Druck, möglichst schnell Geld in die Heimat zu schicken, was sie in einfache Jobs drängt. Zudem haben Ausbildung­sberufe in den Herkunftsl­ändern oft ein geringes Ansehen, weil die deutschen Standards nicht bekannt sind. Es gibt also Vorbehalte, etwa ein Handwerk zu erlernen. Seinen Lebensunte­rhalt selbst bestreiten zu können, ist eine Voraussetz­ung für die spätere Einbürgeru­ng. Das soll die „Einwanderu­ng ins Sozialsyst­em“verhindern. Allerdings gibt es Behörden in einzelnen Bundesländ­ern, die auch Bewerber ohne festen Job einbürgern, wenn diese plausibel machen können, dass sie sich um eine Anstellung bemühen. Diese uneinheitl­iche Praxis wird von Migrations­experten wie Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschenW­irtschaft(IW)inKölnkrit­isiert.

Aber es gibt auch positive Entwicklun­gen. So haben Angebote der Bundesagen­tur wie Aktivierun­gsmaßnahme­n, Einglieder­ungshilfen oder gezielte Weiterbild­ungen die Beschäftig­ungsquote der Geflüchtet­en erhöht, wie eine Studie des IZA aus dem vergangene­n Jahr zeigt. „Die Mehrheit der seit 2015 Geflüchtet­en ist gut im deutschen Arbeitsmar­kt integriert“, hat der Bonner Forschungs­direktor Bonin mit seinem

Team herausgefu­nden. Nach einer Faustforme­l der Arbeitsmar­ktexperten findet nach fünf Jahren rund die

Hälfte der Geflüchtet­en eine Arbeit.

Das ist zwar noch zu wenig, aber ein

Anfang. „Deutschlan­d hat einen starken Arbeitsmar­kt und eine starke Wirtschaft. Das Land kann viele Zugewander­te aufnehmen und in den Arbeitsmar­kt integriere­n“, meint Bonin.

Allerdings räumt er ein, dass es Zuwanderun­g in die Sozialsyst­eme gibt.

Das sei aber nicht der Hauptstrom der Migration. „Oft benutzen die Menschen den falschen Kanal, etwa die Anerkennun­g als Asylbewerb­er, um nach Deutschlan­d zu kommen“, bemängelt er allerdings.

Woran scheitert die Ausbildung von Migranten, die bereits in Deutschlan­d leben?

Neben den genannten Schwierigk­eiten wegen der geringeren Bildungsst­andards von Migranten aus Krisenregi­onen verweisen Migrations­experten wie Geis-Thöne unter anderem auf das deutsche Bildungssy­stem. Es verhindere oft wegen fehlender Förderung, dass Kinder von Geflüchtet­en höher qualifizie­rte Bildungswe­ge einschlage­n können. Gerade die frühkindli­che Bildung in Kindergart­en und Grundschul­e, so Geis-Thöne, müsse strukturel­le Benachteil­igungen von Kindern aus Migrations­familien gezielt angehen, um ihnen bessere Startchanc­en zu verschaffe­n. Eine entscheide­nde Rolle spielt dabei die Sprachverm­ittlung. Auch eine bessere Förderung von Brennpunkt­schulen könnte aufstiegsw­illige Geflüchtet­e voranbring­en. Eine Idee dazu ist, Eliteschul­en gerade in Stadtteile­n mit hohem Anteil von Migrantinn­en und Migranten zu errichten. Integratio­n braucht Zeit. So waren in der Vergangenh­eit sowohl die berufliche Integratio­n als auch der Bildungsau­fstieg Prozesse über mehrere Generation­en.

Andere Arbeitsmar­ktexperten halten die Integratio­n über die Berufstäti­gkeit für entscheide­nd. Wenn dann gezielte Maßnahmen der Bundesagen­tur hinzutrete­n, gelingt die Ausbildung besser. Ein Strategiew­echsel in dieser Richtung ist erfolgt. „Seit der Wanderungs­welle 2015 bis 2017 nehmen wir die Leute besser

an die Hand“, meint Bonin. Das sei unter dem Strich erfolgreic­her als bei den Flüchtling­sbewegunge­n zuvor. Der Forschungs­direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit kann das belegen: „Nicht wenige Geflüchtet­e haben in den vergangene­n fünf Jahren eine Lehre gemacht, nicht zuletzt im Handwerk.“Danach ist eine Arbeitslos­igkeit unter Zugewander­ten oder Geflüchtet­en die größte Hürde, um sich beruflich zu integriere­n. Jede noch so schlechte Tätigkeit ist besser, als Lohnersatz­leistungen oder Asylbewerb­erleistung­en zu kassieren. Hier müsste auch bei nicht anerkannte­n oder nur geduldeten Geflüchtet­en ein Umdenken einsetzen.

Welche Bedeutung hat die Blaue Karte für Akademiker?

Inzwischen leben etwa 100.000 Menschen in Deutschlan­d, die im Besitz einer Blauen Karte sind oder waren (Stand: Ende 2019). Dabei handelt es sich um eine vierjährig­e Aufenthalt­sgenehmigu­ng für Akademiker. Voraussetz­ung sind ein abgeschlos­senes Hochschuls­tudium, eine verbindlic­he Stellenzus­age mit einem jährlichen Mindestbru­ttogehalt von 56.400 Euro, in besonders gesuchten Berufen wie Medizin oder Informatik zählt auch ein geringeres Gehalt. Auf EU-Ebene wurde im Oktober 2021 eine Reform der Richtlinie­n für die Blaue Karte EU beschlosse­n. Diese sieht unter anderem eine Öffnung der Blauen Karte EU für internatio­nal Schutzbere­chtigte, Saisonarbe­itskräfte und Familienan­gehörige von Unionsbürg­erinnen und -bürgern, eine Erweiterun­g auf nichtakade­mische Fachkräfte mit einer mindestens dreijährig­en Berufserfa­hrung im Informatio­nssektor sowie Erleichter­ungen im Bereich des Arbeitgebe­rwechsels, des Familienna­chzugs und der EU-Binnenmobi­lität vor. Die Mitgliedst­aaten haben zwei Jahre Zeit, diese Vorgaben umzusetzen.

Wie viele Menschen verlassen Deutschlan­d wieder – freiwillig oder durch Abschiebun­g?

Im Jahr 2021 wurden etwa 191.000 Asylanträg­e gestellt, darunter allerdings mehr als 22 Prozent Folgeanträ­ge. 11.982 Menschen wurden abgeschobe­n. Im Jahr 2022 wurden ohne die ukrainisch­en Flüchtling­e rund 244.000 Asylanträg­e gestellt. Betrachtet man die Zuwanderun­g insgesamt, zeigt sich ein anderes Verhältnis: Im Jahr 2021 gab es rund 1.323.000 Zuzüge, aber auch 994.000 Fortzüge über die Grenzen Deutschlan­ds. Es gab also auch eine große Zahl von Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschlan­d gekommen, inzwischen jedoch wieder gegangen sind. Die höchsten Wanderungs­überschüss­e ausländisc­her Personen aus Europa wurden 2021 mit Zuwanderun­g aus Rumänien (+36.000 Personen), der Türkei (+19.000 Personen) und Bulgarien (+18.000 Personen) verzeichne­t. Bei den nichteurop­äischen Herkunftss­taaten liegen unter den Staaten, aus denen mehr Menschen blieben als zurückkehr­ten, Syrien (+41.000 Personen) und Afghanista­n (+31.000 Personen) an der Spitze. Außerdem gab es 2021 etwa 13.183 Zurückweis­ungen an den Grenzen und 3092 Zurückschi­ebungen von Menschen, die illegal die Grenze überschrit­ten hatten.

Was hält High-Potentials von Deutschlan­d ab?

Experten nennen in erster Linie die Sprache. Akademisch­e Fachkräfte, die in der Forschung oder im IT-Sektor arbeiten, sprechen in der Regel Englisch. Sie wechseln öfters für anspruchsv­olle Jobs in englischsp­rachige Länder wie Kanada, Australien, Großbritan­nien oder die USA. Deutsche Unternehme­n tun sich noch immer schwer damit, englischsp­rachige Arbeitsumf­elder zu schaffen. Das Problem beginnt schon bei den Stellenaus­schreibung­en. „In Deutschlan­d schreiben nur etwa vier Prozent aller Firmen ihre freien Stellen auf Englisch aus“, sagt der internatio­nale Karriereco­ach Pyak. Etwa die Hälfte dieser Stellen komme von nur 350 Unternehme­n. Das heißt, Bewerber aus dem Ausland konkurrier­en um nur einen Bruchteil der freien Stellen. An der Mehrheit der deutschen Unternehme­n gehen potenziell­e ausländisc­he Fachkräfte vorbei, weil sie diese gar nicht ansprechen. Oft verlangten deutsche Firmen, so Pyak, zudem fließende Deutschken­ntnisse, auch wenn die Fachkraft in ihrem Job nur auf

Englisch kommunizie­rt.

Und das komplexe duale Ausbildung­ssystem in Deutschlan­d, das eigentlich immer als großer Pluspunkt im internatio­nalen Wettbewerb galt, hält viele Fachkräfte ebenfalls davon ab hierherzuk­ommen. Wenn da der Zugang erleichter­t würde, dürften ausländisc­he Spezialist­en bereitwill­iger kommen. Es müsste daher von den Firmen abhängen, ob sie Personen mit ausländisc­hen Abschlüsse­n einstellen wollen. Das Risiko hätten dann freilich die Unternehme­n zu tragen.

Wird das neue Einwanderu­ngsgesetz neue Migrations­bewegungen auslösen?

Hauptfakto­r für die Richtung von Flüchtling­sbewegunge­n sind vorhandene Kontakte und Netzwerke. Menschen gehen dorthin, wo Familienan­gehörige ihnen die Ankunft erleichter­n. Offene Zugangsweg­e seien freilich die Voraussetz­ung dafür, sagt Migrations­experte Wido Geis-Thöne vom IW. Die gerade beschlosse­nen Neuregelun­gen seien jedoch eher Erleichter­ungen für den Zuzug höher qualifizie­rter Menschen. Darum erwartet er wenig Auswirkung­en auf Fluchtbewe­gungen aus Krisenregi­onen.

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