Ein-Wanderungs-Land
Die Folgen des Fachkräftemangels treten immer krasser zutage. Darum will die Regierung die Zuwanderung neu regeln. Doch woher kommen Migranten bisher? Was bringen sie mit? Und um wen müsste Deutschland werben? Ein Überblick.
Aus welchen Ländern kommen Menschen zu Studium oder Ausbildung nach Deutschland?
Im Jahr 2021 haben knapp 59.000 Menschen als sogenannte Bildungsmigranten ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen. Etwa 46.000 davon sind neu nach Deutschland gekommen, knapp 13.000 hatten zuvor andere Aufenthaltsberechtigungen. Der größte Teil (42.000 Menschen) bekam die Aufenthaltserlaubnis für ein Studium, 11.000 für eine Berufsausbildung. Die meisten Bildungsmigranten kamen aus Indien (17 Prozent), gefolgt von China, danach mit Abstand Vietnam, Türkei, USA, Marokko, Iran und Russische Föderation. 2021 wechselten etwa 28.500 Personen von einer Aufenthaltserlaubnis für eine Bildungsmaßnahme in einen Titel zur Arbeitsplatzsuche oder direkt in die Erwerbstätigkeit. Über 5000 weitere Personen nahmen nach einer solchen Arbeitsplatzsuche eine Erwerbstätigkeit auf.
Aus welchen Ländern kommen schon ausgebildete Fachkräfte?
Knapp 85.000 Menschen bekamen im vergangenen Jahr einen Aufenthaltstitel in Deutschland, um einem Erwerb nachzugehen. Etwa 39.000 davon kamen neu ins Land, die übrige Mehrheit vollzog einen Statuswechsel, etwa von Duldung zu Aufenthalt. Von den 85.000 registrierten Fachkräften haben etwas mehr als 11.000 eine abgeschlossene Ausbildung, 13.000 sind Experten mit akademischer Ausbildung. Die meisten Menschen, die zu Erwerbszwecken 2021 nach Deutschland gekommen sind, stammen aus Indien (zwölf Prozent), gefolgt von USA, Türkei und China. Die Westbalkanstaaten machen zusammen einen Anteil von rund 17 Prozent aus.
In welchen Berufen werden Fachkräfte am dringendsten benötigt, aus welchen Ländern könnten sie kommen?
Die Bundesagentur für Arbeit erstellt regelmäßig eine Engpassanalyse für die deutsche Wirtschaft. Danach benötigt unser Land dringend Akademiker, Spezialisten und Fachkräfte. Bei Akademikern fehlen vor allem Mediziner, Pharmakologen sowie IT-Experten. Für Experten in Zukunftsbranchen etwa aus Indien oder Ostasien ist Deutschland allerdings nicht allzu lukrativ – etwa wegen der Sprachbarrieren und der hohen Abzüge bei der Sozialversicherung. „In der IT-Technologie ist Deutschland nicht Weltspitze“, sagt Holger Bonin, Forschungsdirektor beim Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Auch aus Osteuropa sind Akademiker nur schwer zu bekommen. Denn IT-Experten oder Ärzte aus Rumänien und Bulgarien müssen in Deutschland oft ganz unten anfangen – als Assistenzärzte oder Systemadministratoren. „Wer in der Einkommenshierarchie in seinem Land besser dasteht als im Gastland, kommt eher nicht, selbst wenn er im Gastland mehr verdient“, sagt Bonin.
Bei den Spezialisten mit höherwertigem Berufsabschluss sind vor allem Pflegekräfte und Erzieherinnen gesucht. In technischen Berufen herrscht eine Mangellage bei Bauspezialisten,
Elektrotechnikern und Elektronikerinnen. Die größte Hürde hier ist die Vergleichbarkeit der Abschlüsse. „Das spezifische Ausbildungssystem in Deutschland macht das Land unattraktiv für qualifizierte Zuwanderer“, sagt Bonin. Das setzt sich fort bei den Fachkräften mit Lehre, wo es derzeit einen Mangel sowohl in den Bauberufen (Pflasterer, Tief- und Leitungsbauer, Heizungs- und Klimatechniker) als auch im Einzelhandel gibt.
Indien und Ostasien mit ihren 3,4 Milliarden Menschen gelten als riesiges Reservoir an Arbeitskräften. Rund 200.000 Inder arbeiten bereits in Deutschland. Karriereberater wie Chris Pyak, der auf dem internationalen Markt für Top-Angestellte aktiv ist, halten das Herkunftsland nicht für entscheidend. „Weltweit gesuchte Spitzenkräfte wie Software-Entwickler, Datenanalysten oder Ingenieure kann man in allen Ländern finden, von Indien bis Kirgisien, man muss nur wissen, wen man genau sucht. Da hapert es manchmal bei deutschen Firmen“, sagt Pyak.
Wie groß ist die Einwanderung in die Sozialsysteme?
Die Hoffnung, dass die hohe Zuwanderung um 2015 nach ein paar Jahren die Fachkräftelücke in Deutschland schließen könnte, hat sich nur in Teilen erfüllt, etwa durch Fachkräfte aus den neuen Mitgliedstaaten der EU. Als Hauptursache nennen Experten den geringen Bildungsstand von Menschen aus Krisenregionen wie Syrien oder Afghanistan. Außerdem sind die Bildungswege junger Leute aus diesen Ländern oft durch die jahrelange Flucht und langwierige Asylverfahren unterbrochen. Auch traumatische Erfahrungen können die berufliche Integration erschweren. Die Geflüchteten stehen unter dem Druck, möglichst schnell Geld in die Heimat zu schicken, was sie in einfache Jobs drängt. Zudem haben Ausbildungsberufe in den Herkunftsländern oft ein geringes Ansehen, weil die deutschen Standards nicht bekannt sind. Es gibt also Vorbehalte, etwa ein Handwerk zu erlernen. Seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können, ist eine Voraussetzung für die spätere Einbürgerung. Das soll die „Einwanderung ins Sozialsystem“verhindern. Allerdings gibt es Behörden in einzelnen Bundesländern, die auch Bewerber ohne festen Job einbürgern, wenn diese plausibel machen können, dass sie sich um eine Anstellung bemühen. Diese uneinheitliche Praxis wird von Migrationsexperten wie Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschenWirtschaft(IW)inKölnkritisiert.
Aber es gibt auch positive Entwicklungen. So haben Angebote der Bundesagentur wie Aktivierungsmaßnahmen, Eingliederungshilfen oder gezielte Weiterbildungen die Beschäftigungsquote der Geflüchteten erhöht, wie eine Studie des IZA aus dem vergangenen Jahr zeigt. „Die Mehrheit der seit 2015 Geflüchteten ist gut im deutschen Arbeitsmarkt integriert“, hat der Bonner Forschungsdirektor Bonin mit seinem
Team herausgefunden. Nach einer Faustformel der Arbeitsmarktexperten findet nach fünf Jahren rund die
Hälfte der Geflüchteten eine Arbeit.
Das ist zwar noch zu wenig, aber ein
Anfang. „Deutschland hat einen starken Arbeitsmarkt und eine starke Wirtschaft. Das Land kann viele Zugewanderte aufnehmen und in den Arbeitsmarkt integrieren“, meint Bonin.
Allerdings räumt er ein, dass es Zuwanderung in die Sozialsysteme gibt.
Das sei aber nicht der Hauptstrom der Migration. „Oft benutzen die Menschen den falschen Kanal, etwa die Anerkennung als Asylbewerber, um nach Deutschland zu kommen“, bemängelt er allerdings.
Woran scheitert die Ausbildung von Migranten, die bereits in Deutschland leben?
Neben den genannten Schwierigkeiten wegen der geringeren Bildungsstandards von Migranten aus Krisenregionen verweisen Migrationsexperten wie Geis-Thöne unter anderem auf das deutsche Bildungssystem. Es verhindere oft wegen fehlender Förderung, dass Kinder von Geflüchteten höher qualifizierte Bildungswege einschlagen können. Gerade die frühkindliche Bildung in Kindergarten und Grundschule, so Geis-Thöne, müsse strukturelle Benachteiligungen von Kindern aus Migrationsfamilien gezielt angehen, um ihnen bessere Startchancen zu verschaffen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Sprachvermittlung. Auch eine bessere Förderung von Brennpunktschulen könnte aufstiegswillige Geflüchtete voranbringen. Eine Idee dazu ist, Eliteschulen gerade in Stadtteilen mit hohem Anteil von Migrantinnen und Migranten zu errichten. Integration braucht Zeit. So waren in der Vergangenheit sowohl die berufliche Integration als auch der Bildungsaufstieg Prozesse über mehrere Generationen.
Andere Arbeitsmarktexperten halten die Integration über die Berufstätigkeit für entscheidend. Wenn dann gezielte Maßnahmen der Bundesagentur hinzutreten, gelingt die Ausbildung besser. Ein Strategiewechsel in dieser Richtung ist erfolgt. „Seit der Wanderungswelle 2015 bis 2017 nehmen wir die Leute besser
an die Hand“, meint Bonin. Das sei unter dem Strich erfolgreicher als bei den Flüchtlingsbewegungen zuvor. Der Forschungsdirektor des Instituts zur Zukunft der Arbeit kann das belegen: „Nicht wenige Geflüchtete haben in den vergangenen fünf Jahren eine Lehre gemacht, nicht zuletzt im Handwerk.“Danach ist eine Arbeitslosigkeit unter Zugewanderten oder Geflüchteten die größte Hürde, um sich beruflich zu integrieren. Jede noch so schlechte Tätigkeit ist besser, als Lohnersatzleistungen oder Asylbewerberleistungen zu kassieren. Hier müsste auch bei nicht anerkannten oder nur geduldeten Geflüchteten ein Umdenken einsetzen.
Welche Bedeutung hat die Blaue Karte für Akademiker?
Inzwischen leben etwa 100.000 Menschen in Deutschland, die im Besitz einer Blauen Karte sind oder waren (Stand: Ende 2019). Dabei handelt es sich um eine vierjährige Aufenthaltsgenehmigung für Akademiker. Voraussetzung sind ein abgeschlossenes Hochschulstudium, eine verbindliche Stellenzusage mit einem jährlichen Mindestbruttogehalt von 56.400 Euro, in besonders gesuchten Berufen wie Medizin oder Informatik zählt auch ein geringeres Gehalt. Auf EU-Ebene wurde im Oktober 2021 eine Reform der Richtlinien für die Blaue Karte EU beschlossen. Diese sieht unter anderem eine Öffnung der Blauen Karte EU für international Schutzberechtigte, Saisonarbeitskräfte und Familienangehörige von Unionsbürgerinnen und -bürgern, eine Erweiterung auf nichtakademische Fachkräfte mit einer mindestens dreijährigen Berufserfahrung im Informationssektor sowie Erleichterungen im Bereich des Arbeitgeberwechsels, des Familiennachzugs und der EU-Binnenmobilität vor. Die Mitgliedstaaten haben zwei Jahre Zeit, diese Vorgaben umzusetzen.
Wie viele Menschen verlassen Deutschland wieder – freiwillig oder durch Abschiebung?
Im Jahr 2021 wurden etwa 191.000 Asylanträge gestellt, darunter allerdings mehr als 22 Prozent Folgeanträge. 11.982 Menschen wurden abgeschoben. Im Jahr 2022 wurden ohne die ukrainischen Flüchtlinge rund 244.000 Asylanträge gestellt. Betrachtet man die Zuwanderung insgesamt, zeigt sich ein anderes Verhältnis: Im Jahr 2021 gab es rund 1.323.000 Zuzüge, aber auch 994.000 Fortzüge über die Grenzen Deutschlands. Es gab also auch eine große Zahl von Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, inzwischen jedoch wieder gegangen sind. Die höchsten Wanderungsüberschüsse ausländischer Personen aus Europa wurden 2021 mit Zuwanderung aus Rumänien (+36.000 Personen), der Türkei (+19.000 Personen) und Bulgarien (+18.000 Personen) verzeichnet. Bei den nichteuropäischen Herkunftsstaaten liegen unter den Staaten, aus denen mehr Menschen blieben als zurückkehrten, Syrien (+41.000 Personen) und Afghanistan (+31.000 Personen) an der Spitze. Außerdem gab es 2021 etwa 13.183 Zurückweisungen an den Grenzen und 3092 Zurückschiebungen von Menschen, die illegal die Grenze überschritten hatten.
Was hält High-Potentials von Deutschland ab?
Experten nennen in erster Linie die Sprache. Akademische Fachkräfte, die in der Forschung oder im IT-Sektor arbeiten, sprechen in der Regel Englisch. Sie wechseln öfters für anspruchsvolle Jobs in englischsprachige Länder wie Kanada, Australien, Großbritannien oder die USA. Deutsche Unternehmen tun sich noch immer schwer damit, englischsprachige Arbeitsumfelder zu schaffen. Das Problem beginnt schon bei den Stellenausschreibungen. „In Deutschland schreiben nur etwa vier Prozent aller Firmen ihre freien Stellen auf Englisch aus“, sagt der internationale Karrierecoach Pyak. Etwa die Hälfte dieser Stellen komme von nur 350 Unternehmen. Das heißt, Bewerber aus dem Ausland konkurrieren um nur einen Bruchteil der freien Stellen. An der Mehrheit der deutschen Unternehmen gehen potenzielle ausländische Fachkräfte vorbei, weil sie diese gar nicht ansprechen. Oft verlangten deutsche Firmen, so Pyak, zudem fließende Deutschkenntnisse, auch wenn die Fachkraft in ihrem Job nur auf
Englisch kommuniziert.
Und das komplexe duale Ausbildungssystem in Deutschland, das eigentlich immer als großer Pluspunkt im internationalen Wettbewerb galt, hält viele Fachkräfte ebenfalls davon ab hierherzukommen. Wenn da der Zugang erleichtert würde, dürften ausländische Spezialisten bereitwilliger kommen. Es müsste daher von den Firmen abhängen, ob sie Personen mit ausländischen Abschlüssen einstellen wollen. Das Risiko hätten dann freilich die Unternehmen zu tragen.
Wird das neue Einwanderungsgesetz neue Migrationsbewegungen auslösen?
Hauptfaktor für die Richtung von Flüchtlingsbewegungen sind vorhandene Kontakte und Netzwerke. Menschen gehen dorthin, wo Familienangehörige ihnen die Ankunft erleichtern. Offene Zugangswege seien freilich die Voraussetzung dafür, sagt Migrationsexperte Wido Geis-Thöne vom IW. Die gerade beschlossenen Neuregelungen seien jedoch eher Erleichterungen für den Zuzug höher qualifizierter Menschen. Darum erwartet er wenig Auswirkungen auf Fluchtbewegungen aus Krisenregionen.