Der erste Stein flog um kurz vor neun
Der Beginn der Räumung Lützeraths ist entscheidend gewesen. Ein interner Polizeibericht schildert, auf welchen Widerstand die Polizei dabei stieß.
„Lützerath ist beinahe vollständig zerstört, und mit unserem Verlassen des Tunnels heute Morgen auch komplett geräumt“, sagen „Pinky“und „Brain“, die beiden Aktivisten, die als letztes den Weiler verlassen haben, nachdem sie am Montag aus ihrem Tunnel gekommen sind, in dem sie tagelang der Räumung standgehalten haben.
Nicht einmal eine Woche haben Polizei und RWE benötigt, um Lützerath vollständig zu räumen. Dabei ist der Großteil bereits am ersten Einsatztag erfolgt. Wie es dazu gekommen ist, zeichnen wir im Folgenden anhand des mehrseitigen Polizeiberichts, der sogenannten Lagefortschreibung, in die unsere Redaktion exklusiven Einblick gehabt hat, nach. Dazu schildern wir die Sicht der Aktivisten anhand offizieller Statements aus ihrem Informationskanälen auf Telegram.
Es regnet in Strömen, Böen peitschen über die Felder vor Lützerath, als um 8.34 Uhr am 11. Januar der erste Zug einer Einsatzhundertschaft in den Weiler einrückt. Die Besetzer werden von der Wucht des ersten Vorstoßes überrascht, obwohl sie gewusst haben, dass die Polizei an diesem Tag zu ihnen kommen wird. Sie haben aber offensichtlich nicht damit gerechnet, dass die Einsatzkräfte die Hauptbarrikaden an den Zufahrtsstraßen einfach umgehen und stattdessen über eine hindernisfreie Brache vorstoßen. Später werden einige der Aktivisten von einem unverhältnismäßigen Einrücken der Polizei sprechen, das Panik bei Einzelnen ausgelöst hätte.
Die Polizei nutzt das zeitweilige Durcheinander aus und rückt schnell vor. Am ehemaligen Hof von Eckardt Heukamp, des letzten Landwirts Lützeraths, der hier aufgewachsen ist und als Kind auf den Wiesen Fußball gespielt hat, kommt es zur ersten heftigen Konfrontation. Um 8.45 Uhr, so ist es in der polizeilichen Lagebeschreibung notiert,
werden die Einsatzkräfte des Einsatzabschnittes 2 (EA2) massiv mit Steinen beworfen. Dann fliegen mit Benzin befüllte Flaschen auf die Beamten, die sich aber nicht entzünden, vermerkt der Bericht. Die Aktivisten, von der Polizei als „Störer“bezeichnet, versuchen, neue Barrikaden zu errichten, um den Vorstoß abzubremsen – vergeblich. Die Polizei wird mit Böllern und Silvesterraketen beschossen, dringt aber trotzdem schnell weiter vor. Um 9.10 Uhr notiert der Bericht, dass mit Molotowcocktails, Steinen und Böllern auf die Kräfte geworfen wird. Ein Beamter der Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaft (BFH), ein in speziellen Festnahmetechniken und schnellen Eingreiftaktiken geschulter Bestandteil der Bereitschaftspolizei, wird durch einen Stein verletzt; ein Tatverdächtiger, ein mutmaßlicher Brandsatzwerfer, wird in die Gefangenenstelle gebracht. Der Hauptwiderstand ist nach kaum einer halben Stunde gebrochen. Um 9.11 Uhr heißt es im Informationskanal der Aktivisten: „Die Polizei steht im Camp.“
Dem Polizeibericht ist zu entnehmen, dass die Einsatzkräfte extrem
gut vorbereitet auf die Räumung gewesen sind und zum Teil genau gewusst haben, was sie dort erwartet. Dabei unterscheidet die Polizei einen bürgerlichen und einen militanten Teil der Besetzer. So heißt es in dem Bericht kurz vor der Räumung: Die bürgerlichen Besetzer werden sich – sobald die Polizei kommt – in
Baumhäusern, Gebäuden und Tripods, dreibeinige Gestelle, an deren Spitze sie sich festketten, verschanzen und zurückziehen und von dort aus versuchen, sich mit „Lock-Ons“der Räumung zu widersetzen. „Der „linksextremistische militante Personenanteil“werde vermutlich aktiv versuchen, durch Besetzungen von Räumungs- und Arbeitsgeräten und Angriffen auf eingesetzte Polizeikräfte sowie Sicherheitskräfte des Energieversorgers RWE die Räumungsarbeiten zu erschweren und zu verhindern. Zur Personenzahl im Weiler vermerkt der Bericht am Tag vor der Räumung: Es befinden sich etwa 300 bis 350 Personen in Lützerath. Davon seien etwa 200 der Kategorie (Gefährdungsstufen) „Gelb“und etwa 50 der Kategorie „Rot“zuzuordnen.
Die Polizei, die Lützerath in mehrere Sektoren aufgeteilt hat, umschließt am ersten Tag der Räumung im zweiten Sektor eine Mahnwache, bei der sich 24 Personen aufhalten. Gleichzeitig werden Zelte, in denen sich niemand befindet, beseitigt. Um 11.15 Uhr vermerkt der Einsatzbericht, dass drei „Störer“versuchen, von außen nach Lützerath einzudringen. Die Polizei drängt sie zurück. Dabei wird eine Polizistin verletzt. Zwei der Aktivisten werden in die Gefangenensammelstelle gebracht, die dritte Person flüchtet. Die vorrückenden Polizeieinheiten stoßen immer wieder auf Sitzblockaden und Personen, die sich mittels sogenannter Lock-ons an Ölfässern und Fahrzeugen festgekettet oder festgeklebt haben. Auf einem Pfad entdecken die Beamten eine kopfüber einbetonierte Gasflasche im Boden. Entschärfer des Landeskriminalamtes geben Entwarnung, nachdem sie die Flasche untersucht haben.
Um 12.52 Uhr beginnt laut Bericht bereits die Räumung erster Gebäude, insbesondere der Hallen. Dabei flüchten mehrere Personen auf die Dächer, einige befinden sich auf Konstruktionen im Inneren der Hallen. Die Technische Einsatzeinheit der Polizei (TEE) holt Aktivisten von oben herunter. Um 16.55 Uhr bricht die TEE-Einheit wegen der Dunkelheit ihre Arbeiten ab. Viele Aktivisten geben bereits von sich aus auf. „Bis 16.24 Uhr verließen 222 Personen freiwillig den Bereich“, heißt es in der Lagebeschreibung. Um 21.40 Uhr werden auf dem „Aktionsticker Lützerath“auf Telegram von Aktivistenseite massive Geländegewinne der Polizei eingeräumt: „Das Bussi Kufahalle, Tripods und die Kidi-Kapelle wurden geräumt. Cops sind in die Awarenesshütte, die Pressehütte, das Hüttendorf und die Hallen eingebrochen.“
Drei Tage später ist Lützerath bis auf „Pinky“und „Brain“, die im Tunnel ausharren, geräumt. Sie selbst geben zwei Tage später auf.
Auch am Dienstag setzten Aktivisten an mehreren Orten in NRW ihren Protest fort. Erneut kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Unter anderem wurden ein Bagger sowie Schienen und Zufahrtsstraßen blockiert.