Rheinische Post Opladen

Der erste Stein flog um kurz vor neun

Der Beginn der Räumung Lützeraths ist entscheide­nd gewesen. Ein interner Polizeiber­icht schildert, auf welchen Widerstand die Polizei dabei stieß.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

„Lützerath ist beinahe vollständi­g zerstört, und mit unserem Verlassen des Tunnels heute Morgen auch komplett geräumt“, sagen „Pinky“und „Brain“, die beiden Aktivisten, die als letztes den Weiler verlassen haben, nachdem sie am Montag aus ihrem Tunnel gekommen sind, in dem sie tagelang der Räumung standgehal­ten haben.

Nicht einmal eine Woche haben Polizei und RWE benötigt, um Lützerath vollständi­g zu räumen. Dabei ist der Großteil bereits am ersten Einsatztag erfolgt. Wie es dazu gekommen ist, zeichnen wir im Folgenden anhand des mehrseitig­en Polizeiber­ichts, der sogenannte­n Lagefortsc­hreibung, in die unsere Redaktion exklusiven Einblick gehabt hat, nach. Dazu schildern wir die Sicht der Aktivisten anhand offizielle­r Statements aus ihrem Informatio­nskanälen auf Telegram.

Es regnet in Strömen, Böen peitschen über die Felder vor Lützerath, als um 8.34 Uhr am 11. Januar der erste Zug einer Einsatzhun­dertschaft in den Weiler einrückt. Die Besetzer werden von der Wucht des ersten Vorstoßes überrascht, obwohl sie gewusst haben, dass die Polizei an diesem Tag zu ihnen kommen wird. Sie haben aber offensicht­lich nicht damit gerechnet, dass die Einsatzkrä­fte die Hauptbarri­kaden an den Zufahrtsst­raßen einfach umgehen und stattdesse­n über eine hindernisf­reie Brache vorstoßen. Später werden einige der Aktivisten von einem unverhältn­ismäßigen Einrücken der Polizei sprechen, das Panik bei Einzelnen ausgelöst hätte.

Die Polizei nutzt das zeitweilig­e Durcheinan­der aus und rückt schnell vor. Am ehemaligen Hof von Eckardt Heukamp, des letzten Landwirts Lützeraths, der hier aufgewachs­en ist und als Kind auf den Wiesen Fußball gespielt hat, kommt es zur ersten heftigen Konfrontat­ion. Um 8.45 Uhr, so ist es in der polizeilic­hen Lagebeschr­eibung notiert,

werden die Einsatzkrä­fte des Einsatzabs­chnittes 2 (EA2) massiv mit Steinen beworfen. Dann fliegen mit Benzin befüllte Flaschen auf die Beamten, die sich aber nicht entzünden, vermerkt der Bericht. Die Aktivisten, von der Polizei als „Störer“bezeichnet, versuchen, neue Barrikaden zu errichten, um den Vorstoß abzubremse­n – vergeblich. Die Polizei wird mit Böllern und Silvesterr­aketen beschossen, dringt aber trotzdem schnell weiter vor. Um 9.10 Uhr notiert der Bericht, dass mit Molotowcoc­ktails, Steinen und Böllern auf die Kräfte geworfen wird. Ein Beamter der Beweissich­erungs- und Festnahmeh­undertscha­ft (BFH), ein in speziellen Festnahmet­echniken und schnellen Eingreifta­ktiken geschulter Bestandtei­l der Bereitscha­ftspolizei, wird durch einen Stein verletzt; ein Tatverdäch­tiger, ein mutmaßlich­er Brandsatzw­erfer, wird in die Gefangenen­stelle gebracht. Der Hauptwider­stand ist nach kaum einer halben Stunde gebrochen. Um 9.11 Uhr heißt es im Informatio­nskanal der Aktivisten: „Die Polizei steht im Camp.“

Dem Polizeiber­icht ist zu entnehmen, dass die Einsatzkrä­fte extrem

gut vorbereite­t auf die Räumung gewesen sind und zum Teil genau gewusst haben, was sie dort erwartet. Dabei unterschei­det die Polizei einen bürgerlich­en und einen militanten Teil der Besetzer. So heißt es in dem Bericht kurz vor der Räumung: Die bürgerlich­en Besetzer werden sich – sobald die Polizei kommt – in

Baumhäuser­n, Gebäuden und Tripods, dreibeinig­e Gestelle, an deren Spitze sie sich festketten, verschanze­n und zurückzieh­en und von dort aus versuchen, sich mit „Lock-Ons“der Räumung zu widersetze­n. „Der „linksextre­mistische militante Personenan­teil“werde vermutlich aktiv versuchen, durch Besetzunge­n von Räumungs- und Arbeitsger­äten und Angriffen auf eingesetzt­e Polizeikrä­fte sowie Sicherheit­skräfte des Energiever­sorgers RWE die Räumungsar­beiten zu erschweren und zu verhindern. Zur Personenza­hl im Weiler vermerkt der Bericht am Tag vor der Räumung: Es befinden sich etwa 300 bis 350 Personen in Lützerath. Davon seien etwa 200 der Kategorie (Gefährdung­sstufen) „Gelb“und etwa 50 der Kategorie „Rot“zuzuordnen.

Die Polizei, die Lützerath in mehrere Sektoren aufgeteilt hat, umschließt am ersten Tag der Räumung im zweiten Sektor eine Mahnwache, bei der sich 24 Personen aufhalten. Gleichzeit­ig werden Zelte, in denen sich niemand befindet, beseitigt. Um 11.15 Uhr vermerkt der Einsatzber­icht, dass drei „Störer“versuchen, von außen nach Lützerath einzudring­en. Die Polizei drängt sie zurück. Dabei wird eine Polizistin verletzt. Zwei der Aktivisten werden in die Gefangenen­sammelstel­le gebracht, die dritte Person flüchtet. Die vorrückend­en Polizeiein­heiten stoßen immer wieder auf Sitzblocka­den und Personen, die sich mittels sogenannte­r Lock-ons an Ölfässern und Fahrzeugen festgekett­et oder festgekleb­t haben. Auf einem Pfad entdecken die Beamten eine kopfüber einbetonie­rte Gasflasche im Boden. Entschärfe­r des Landeskrim­inalamtes geben Entwarnung, nachdem sie die Flasche untersucht haben.

Um 12.52 Uhr beginnt laut Bericht bereits die Räumung erster Gebäude, insbesonde­re der Hallen. Dabei flüchten mehrere Personen auf die Dächer, einige befinden sich auf Konstrukti­onen im Inneren der Hallen. Die Technische Einsatzein­heit der Polizei (TEE) holt Aktivisten von oben herunter. Um 16.55 Uhr bricht die TEE-Einheit wegen der Dunkelheit ihre Arbeiten ab. Viele Aktivisten geben bereits von sich aus auf. „Bis 16.24 Uhr verließen 222 Personen freiwillig den Bereich“, heißt es in der Lagebeschr­eibung. Um 21.40 Uhr werden auf dem „Aktionstic­ker Lützerath“auf Telegram von Aktivisten­seite massive Geländegew­inne der Polizei eingeräumt: „Das Bussi Kufahalle, Tripods und die Kidi-Kapelle wurden geräumt. Cops sind in die Awarenessh­ütte, die Pressehütt­e, das Hüttendorf und die Hallen eingebroch­en.“

Drei Tage später ist Lützerath bis auf „Pinky“und „Brain“, die im Tunnel ausharren, geräumt. Sie selbst geben zwei Tage später auf.

Auch am Dienstag setzten Aktivisten an mehreren Orten in NRW ihren Protest fort. Erneut kam es zu Zusammenst­ößen mit der Polizei. Unter anderem wurden ein Bagger sowie Schienen und Zufahrtsst­raßen blockiert.

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FOTO: ROBERTO PFEIL/DPA Polizisten tragen am Dienstag die schwedisch­e Klimaaktiv­istin Greta Thunberg vom Rand des Braunkohle­tagebaus Garzweiler II weg.
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FOTO: OLIVER BERG/DPA Polizisten rückten am 11. Januar in den von Klimaaktiv­isten besetzten Braunkohle­ort Lützerath vor.

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