Rheinische Post Opladen

Weltreise gegen die Zeit

Die Kinder eines Ehepaars aus Kanada werden wohl erblinden. Vorher wollten ihre Eltern ihnen die schönsten Eindrücke der Erde verschaffe­n – auf einer Tour rund um den Globus.

- VON BENNO SCHWINGHAM­MER

MONTREAL/BANGKOK (dpa) Ihre Tochter Mia sei drei Jahre alt gewesen, als Edith Lemay merkte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Wenn Mia nachts durchs Haus ging, stieß sie sich verdächtig oft an Möbeln. Es sollte Jahre dauern, bis Lemay und ihr Mann Sebastian nach Gentests eine klare Diagnose erhielten: Drei ihrer vier Kinder hätten demnach die Augenkrank­heit Retinitis pigmentosa, die im Endstadium in der Regel zur Erblindung führt.

Ein Spezialist riet dem Paar, ihr visuelles Gedächtnis mit Eindrücken zu füllen und ihnen in Büchern zum Beispiel Bilder von Elefanten zu zeigen. „Und für mich hat es da Klick gemacht“, erzählt Lemay. „Ich dachte mir, lass uns gehen und ihnen Elefanten und Giraffen im wirklichen Leben zeigen, so werden sie sich wirklich daran erinnern“, so stellt es die 44-Jährige dar. Die Familie machte sich auf eine Reise gegen die Zeit, um ihren Kindern die Welt zu zeigen, bevor sie für sie verblasst.

Der Anruf erreicht Edith Lemay

in Thailand, in der Glasscheib­e hinter ihr spiegelt sich ein Weihnachts­baum. Lemay und ihre sechsköpfi­ge Familie haben Tausende Kilometer hinter sich, seitdem sie im März aus Montreal aufgebroch­en waren. Dementspre­chend müde ist die Mutter heute, erzählt sie. Im März 2022 ging es aus der kanadische­n Kälte zuerst nach Namibia und anschließe­nd quer durch Afrika, dann über die Türkei und die Mongolei nach Bali, schließlic­h landeten sie in Thailand. Und die Feiertage verbringt die Familie auf einer Insel in Kambodscha.

Einige der schönsten Erinnerung­en lie- gen hinter ihnen, ausgelöst von dem Schicksals­schlag, der dazu führte, dass Lemay und ihr Mann Sebastien Pelletier (45) ihre Jobs in der Gesundheit­sbranche und dem Finanzsekt­or kündigten und ihre Kinder auf die Reise ihres Lebens mitnahmen. Es war vor vier Jahren, erzählt Lemay, als die Diagnose für Mia feststand. Das heute elf Jahre alte Mädchen habe die Nachricht damals mit Fassung aufgenomme­n: „Mami, ich

muss mein Zimmer sauber halten, denn wenn ich nichts sehe, muss ich meine Sachen in meinem Zimmer finden“, sagte sie nach Angaben ihrer Mutter.

Weitere Gentests bestätigte­n den Verdacht der Eltern, dass auch Colin (7) und Laurent (5) unter Retinitis pigmentosa leiden. Noch hätten die Kinder nur nachts Probleme, ihre Umgebung zu erkennen. Sie gehen tapfer mit ihrer Krankheit um und malen sich zum Beispiel aus, wie albern ihre Blindenhun­de sein könnten, sagt Lemay. Sie und ihr Mann schätzen, dass ihre Kinder ihre Sehkraft in der Mitte ihres Lebens vollständi­g verloren haben dürften, sofern nicht ein großer medizinisc­her Durchbruch geschieht. Nur Leo (9) habe die genetische Auffälligk­eit nicht.

Eigentlich wollten die Eltern mit ihren Kindern schon 2020 hinaus in die Welt, doch die Corona-Pandemie durchkreuz­te ihre Reisepläne. Und weil sich die Länder 2022 unterschie­dlich schnell für Besucherin­nen und Besucher öffneten,

plante die Familie immer nur Schritt für Schritt – und orientiert­e sich an ihrer ganz eigenen Bucketlist.

Leo meldete demnach an, er wolle unbedingt Pokémon sehen und dachte, dass sich die Monster aus den Nintendo-Spielen vermutlich in Japan bestaunen ließen. Colins Wunsch dagegen war deutlich einfacher zu erfüllen: einmal in einem Zug schlafen. Das hat die Familie mittlerwei­le sogar einige Male getan. „Und der Lustigste war Laurent, der auf einem Kamel Saft trinken wollte“, erzählt Lemay. Ihr Sohn sei nicht von seiner Idee abzubringe­n gewesen, und so gab es irgendwann auch ein Trinkpäckc­hen auf dem Rücken eines Kamels. Zu den Highlights der Reise zählten auch die wilden Tiere in Afrika und die Safari, auf der die Familie dann tatsächlic­h Elefanten und Giraffen sah. Sie wanderte auch am Fuße des Kilimandsc­haro zwischen exotischen Pflanzen und bestaunte in der türkischen Region Kappadokie­n Hunderte Heißluftba­llons, die sich vor dem Start wie „riesige Laternen“ aufpluster­ten. Als Lemay und Pelletier ihre Kinder damit überrascht­en, dass sie selbst mitfliegen würden, sei das für Leo wie ein Traum gewesen, erzählt Lemay: „Und so hat es sich angefühlt.“

Nach zwei Wochen weihnachtl­ichem Strandurla­ub in Kambodscha planten Lemay und Pelletier jetzt, nach Laos und wahrschein­lich weiter nach Nepal zu reisen. Das letzte Ziel ihrer Reise ist noch offen. Der Oman habe aber gute Chancen. Im April schließlic­h will die Familie wieder zu Hause in Montreal sein – nach dem Nomadenleb­en dann wieder im kanadische­n Alltag, in dem die Suche nach neuen Jobs wartet. Nach einem Jahr Homeschool­ing auf der ganzen Welt müssen Mia, Leo, Colin und Laurent auch wieder in die Schule. Doch die Reise könnte die Familie noch lange begleiten: Lemay kann sich vorstellen, sie mit ihrem Ehemann und den Kindern zu verfilmen: „Nur will ich da jetzt nicht darüber nachdenken. Wir werden sehen.“Erst mal, betont sie, gehe die Reise weiter.

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FOTOS (3): EDITH LEMAY/PRIVAT/DPA Edith Lemay mit ihrem Mann Sebastien Pelletier und den Kindern Mia (11), Colin (7) , Laurent (5) und Leo (9).
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Die Geschwiste­r mit einer Riesenschi­ldkröte.
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Die vier Kinder in der afrikanisc­hen Savanne.

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