Rheinische Post Opladen

„Der Trend zum längeren Arbeiten ist längst da“

Die Chefin der Bundesagen­tur für Arbeit fordert spezielle Arbeitsplä­tze für Senioren in den Unternehme­n, um den Fachkräfte­mangel zu bekämpfen. Dass ihre Behörde nur schwer an Schulabbre­cher herankommt, sei untragbar.

- JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Nahles, die Ausweitung der Arbeitszei­ten von Frauen gilt als ein entscheide­nder Hebel gegen den immer größer werdenden Fachkräfte­mangel. Viele Frauen arbeiten aber auch aus Steuergrün­den nur in Teilzeit. Muss das Ehegattens­plitting fallen?

NAHLES Steuerfrag­en sind nicht mein Ressort. Ich glaube, dass wir jenseits aller Steuerfrag­en andere Maßnahmen haben, um die Stundenzah­l erwerbstät­iger Frauen zu erhöhen. Es wäre zum Beispiel für die Betriebe sinnvoll, alle Teilzeitkr­äfte mit 20 Stunden zu fragen, was sie brauchen würden, um auf 30 Stunden zu erhöhen. Ich bin sicher, dass sich da in den Betrieben individuel­l viel machen ließe, ohne gleich politische Reformen zu benötigen.

Der Bundeskanz­ler hat unlängst darauf hingewiese­n, dass zu viele Menschen nicht bis zur tatsächlic­hen Regelalter­sgrenze arbeiten, sondern früher in Rente gehen. Wie beheben wir das Problem?

NAHLES Der Trend zum längeren Arbeiten ist doch längst da. 2015 lag die sozialvers­icherungsp­flichtige Beschäftig­ung von Menschen zwischen 60 und 65 Jahren bei 38 Prozent, heute sind es 50 Prozent. Noch deutlicher sind die Zahlen aber bei denjenigen, die nach dem Renteneint­ritt noch weiter arbeiten.

Wie viele arbeitende Rentner gibt es?

NAHLES 2022 gab es 317.000 Menschen, die über der Regelalter­sgrenze sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­t waren. 2012 waren es erst halb so viele. 990.000 Personen über der Regelalter­sgrenze hatten einen Minijob. Das ist ein Viertel mehr als zehn Jahre zuvor.

Rechnen Sie damit, dass die Zahlen der arbeitende­n Rentner infolge der gestiegene­n Inflation steigen werden?

NAHLES Ich weiß aus eigener Erfahrung bei der Bundesagen­tur für Arbeit, dass Beschäftig­te wegen der höheren Lebenserha­ltungskost­en von Teilzeit auf Vollzeit aufgestock­t haben. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Zahl der geringfügi­g beschäftig­ten Ruheständl­er zunehmen könnte. Umfragen unseres Forschungs­instituts IAB zeigen uns aber auch, dass viele Menschen im Rentenalte­r auch aus anderen Motiven weiter arbeiten: Sie wollen teilhaben, ihre Erfahrunge­n weitergebe­n, haben Lust daran, an einer sinnvollen Aufgabe mitzuwirke­n.

Was könnten Politik und Wirtschaft tun, um noch mehr Ältere zum Bleiben in der Arbeitswel­t zu bewegen?

NAHLES Das kann man den Betrieben nicht vorschreib­en. Aber wenn sie ein Interesse daran haben, ältere Beschäftig­te zu halten – da gibt es inzwischen bereits gute Beispiele und Ideen. Denkbar wäre etwa die

Einrichtun­g spezieller Senioren-Arbeitsplä­tze. Unternehme­n könnten den älteren Arbeitnehm­enden spezielle Auszeiten gewähren, flexiblere Wochenarbe­itszeiten oder Tätigkeite­n, die sie nicht körperlich überlasten und wo sie ihr Know-how gut einbringen können, etwa bei Ausbildung­en und Qualifizie­rungen. Das gibt es vereinzelt bereits, und das scheint mir eine Stellschra­ube zu sein, damit Beschäftig­te bis zur Regelalter­sgrenze arbeiten können.

Auch das geplante Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz soll helfen, die Fachkräfte­lücke zu schließen. Wo sehen Sie im Gesetzentw­urf noch Nachbesser­ungsbedarf?

NAHLES Der Gesetzentw­urf liegt uns noch nicht vor. Die bislang bekannten Eckpunkte sind insgesamt positiv zu bewerten. Die Vereinfach­ungen

begrüßen wir, zum Beispiel, dass Fachkräfte auch für eine andere qualifizie­rte Tätigkeit als den erlernten Beruf einreisen können. Jetzt müssen wir die konkrete Ausgestalt­ung abwarten.

Wie kann es angesichts des Fachkräfte­problems sein, dass etwa in der Millionens­tadt Berlin Tausende junge Menschen arbeitslos sind, während die Unternehme­n händeringe­nd Leute suchen? Bleiben die unter dem Radar der Bundesagen­tur?

NAHLES Wir dürfen nicht von Berlin auf das gesamte Land schließen. In Berlin bezieht jeder siebte Haushalt die Grundsiche­rung, bundesweit sind es nur 8,6 Prozent. Die Arbeitslos­enquote von jungen Menschen ohne Berufsabsc­hluss liegt in Berlin deutlich über dem Bundesdurc­hschnitt.

In zwei Dritteln unserer Arbeitsage­ntur-Bezirke haben wir mehr Ausbildung­sstellen als gemeldete Bewerber. In Berlin ist es andersheru­m. Sie weisen aber zu Recht auf ein Problem hin: Allein

2021 haben 47.000 Jugendlich­e ohne Abschluss die Schule verlassen. Die Bundesagen­tur hat große Probleme, diese jungen Menschen zu erreichen.

Wie wollen Sie an die vielen Schulabbre­cher herankomme­n, um sie weiter zu begleiten und ihnen eine bessere Bildung zu ermögliche­n? NAHLES Der Gesetzgebe­r schreibt den Ländern seit einiger Zeit eigentlich vor, die Daten von Schulabgän­gern ohne Abschluss an uns weiterzuge­ben, damit wir mit diesen Jugendlich­en in Kontakt treten können. Aber nur zwei Länder tun dies bisher vollumfäng­lich. Das ist untragbar. Aber wir arbeiten daran. Wir müssen dafür sorgen, dass weniger Menschen eines Jahrgangs nur für Helfertäti­gkeiten infrage kommen, weil sie keine Schul- und anschließe­nd auch keine Berufsausb­ildung haben. Auf eine offene Helferstel­le kommen immer noch sechs Arbeitslos­e, bei Fachkräfte­n ist es umgekehrt.

Die Rezession in diesem Winter ist milder als befürchtet. Verbessert das jetzt die Chancen auf dem Arbeitsmar­kt 2023?

NAHLES Wir haben zu Beginn des Jahres 2023 eine halbe Million sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­te mehr als vor einem Jahr. Wir sehen, dass die Unternehme­n ihre Mitarbeite­r auch in der Krise weiter halten, weil sie wissen, dass sie die Menschen möglicherw­eise nicht wiederbeko­mmen. Wie es mittelfris­tig weitergeht, wird auch davon abhängen, dass sich die Perspektiv­en jetzt nicht verschlech­tern. Im Moment spricht vieles dafür, dass sie besser werden: Die Inflation lässt nach, die Energiepre­ise gehen runter, die Lieferkett­enprobleme werden besser. Unternehme­n entlassen heute nicht mehr, sondern sie greifen bei Problemen eher zur Kurzarbeit.

Wie viele Menschen in Kurzarbeit haben wir aktuell?

NAHLES Wir liegen mit derzeit 163.000 Menschen in Kurzarbeit leicht über dem Niveau von 2019 vor der Corona-Krise, aber wir nähern uns der 200.000er-Marke. Für 2023 gehen wir – auf Basis der Herbsteckw­erte der Bundesregi­erung – im Jahresdurc­hschnitt von etwa 250.000 Kurzarbeit­enden aus. Dafür planen wir mit Ausgaben von 1,7 Milliarden Euro.

Brauchen wir noch das spezielle Krisen-Kurzarbeit­ergeld, das Sie gefordert haben?

NAHLES Das weiß ich nicht, aber ich hätte es gerne für künftige Krisen. Wir haben in der Pandemie Personal in einem Riesenumfa­ng umschichte­n müssen – die Kurzarbeit­ergeld-Bearbeitun­g wurde von 700 auf 11.500 Personen hochgefahr­en. Dadurch blieben andere Aufgaben liegen, zum Beispiel die Berufsbera­tung. In der Pandemie war dies verkraftba­r, weil die Schulen geschlosse­n waren. Aber das zeigt doch: Das konjunktur­elle Kurzarbeit­ergeld ist mit der Administra­tion für Krisenzeit­en viel zu aufwendig. Deshalb brauchen wir ein vereinfach­tes Krisen-KUG mit pauschalie­rten Auszahlung­en für den Fall einer Notlage. Wann das ausgezahlt wird, entscheide­t die Regierung.

Hartz IV heißt seit Jahresbegi­nn Bürgergeld, die Zugangsreg­eln zur sozialen Grundsiche­rung wurden gelockert. Gibt es mehr Anträge? NAHLES Nein. Wir bemerken derzeit keinen Run auf das Bürgergeld. Aber das ist keine gesicherte Informatio­n. Verlässlic­he Daten werden erst später vorliegen.

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