Marcus R. bat aus Haft um Bonus von Bayer
Der Angeklagte im Kölner Prozess zum Missbrauchskomplex Wermelskirchen arbeitete als IT-Experte in leitender Position beim Konzern in Leverkusen. Jetzt begegnete er seinem ehemaligen Chef, der als Zeuge geladen war.
Der Familienvater Jürgen K. (Name geändert) war irritiert, als sich neben einigen jugendlichen Mädchen aus der Nachbarschaft auch ein erwachsener Mann auf ein Inserat meldete, mit dem er und seine Frau im Frühjahr 2015 einen Babysitter für den kleinen Sohn suchten. Doch sie luden den Interessenten zum Kennenlern-Gespräch ein, er machte einen vernünftigen Eindruck, hatte gleich einen guten Draht zu den Kindern und Erfahrung im Babysitten. So erzählt K. es am Dienstag im Zeugenstand des Kölner Landgerichts. „Es kam mir aber schon komisch vor, dass er sich eine halbe Stunde ins Auto setzte, um zu uns zu kommen – da rechnet sich ja noch nicht mal der Sprit“, sagt der 49-Jährige. Doch Marcus R. aus Wermelskirchen wischte Bedenken beiseite und erklärte seine Motivation damit, dass er sehr gerne mit Kindern arbeite, weil er und seine Frau noch keine hätten. Als er zum ersten Babysitter-Einsatz mit einer Reisetasche erschien, fand K. auch das seltsam. „Ich habe ihn gefragt, er meinte, da sei Essen, Trinken und ein Tablet drin“, sagt er. Nachgesehen habe er natürlich nicht.
Heute weiß man, dass Marcus R. seine „Babysittertasche“oft voll gepackt hatte mit Utensilien, die er für den sexuellen Missbrauch der Kinder, die ihm anvertraut worden waren, benutzte – ein Stativ etwa, Sexspielzeug, Schlaftabletten. Wie oft er Kindern Schlafmittel gab, ist noch unklar. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 45-Jährigen insgesamt 122 Taten zwischen 2005 und 2019 vor. Dazu zählen viele schwere Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder.
Jürgen K. schildert, dass der Angeklagte nur ein- oder zweimal auf seinen Sohn, der damals noch kein Jahr alt war, aufgepasst habe. „Ich weiß noch, dass meine Frau und ich früher als abgemacht nach Hause gefahren sind, weil ich ein komisches Bauchgefühl hatte.“Zu Hause habe R. dann aber mit dem Jungen auf dem Boden gesessen und gespielt. Trotzdem habe er ihn nicht noch einmal angefragt. „Er hat sich noch ein paar Mal gemeldet und geschrieben, er würde uns gern entlasten, uns helfen“, sagt K. Aber er habe die Mails abgeblockt.
Erst acht Jahre später stellte sich heraus, dass das ungute Bauchgefühl des Vaters richtig war: Ein Kripo-Beamter kontaktierte ihn im vergangenen Jahr. So erfuhr K. von den schweren Vorwürfen gegen Marcus R. „Ich habe zu dem Beamten gesagt: Da haben wir ja nochmal Glück gehabt, der war höchstens zweimal bei uns.“Doch der Ermittler entgegnete: „Da muss ich Sie leider enttäuschen.“Auch der kleine Junge wurde missbraucht.
Marcus R. hat im Prozess alle Taten, die er selbst gefilmt hatte, gestanden. Die Frage ist, ob es noch mehr Taten und Opfer gibt. Seine sichergestellten Chats mit anderen Pädokriminellen „strotzen vor Gewaltfantasien“, wie der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann zum Angeklagten sagt, „insbesondere von Ihnen“. Als der Angeklagte sich bei dem Zeugen entschuldigt und dessen Sohn Schmerzensgeld anbietet, lehnt der Zeuge ab. „Geld macht nichts wieder gut. Und das ist für mich schmutziges Geld. Machen
Sie eine Therapie, werden Sie ein besserer Mensch – was Sie getan haben, ist unmenschlich.“
An diesem Prozesstag begegnet der Angeklagte seinem ehemaligen Chef wieder, der als Zeuge geladen ist. Marcus R. hat mit ihm bei der Bayer AG in Leverkusen gearbeitet, hatte dort als IT-Experte zuletzt eine leitende Position. Nach seiner Verhaftung Anfang Dezember 2021 hätten viele Kollegen sich nach R. erkundigt, erzählt der Ex-Vorgesetzte: „Sie wollten sich bei ihm melden, ihm Karten schicken, weil wir erst einmal gesagt hatten, er sei erkrankt.“R. sei ein guter Mitarbeiter gewesen, immer engagiert, kommunikativ, hilfsbereit und fleißig. „So, wie man sich
jemanden wünscht als Chef“, sagt er. „Das war keiner, den man antreiben musste.“Als durchsickerte, warum Marcus R. tatsächlich weg war, habe das „Schockwellen durch die Organisation gesendet“, berichtet der Zeuge. Niemand habe auch nur das Leiseste geahnt.
Wenige Tage nach der Verhaftung bekam der Chef einen Brief von Marcus R. Darin bekundete er, unbedingt im Unternehmen bleiben zu wollen und bat um die Möglichkeit, ein Sabbatical einlegen zu können. „Wenn ich Burn-out hätte, wäre ich ja auch plötzlich weg“, schrieb er. Das habe er als sehr befremdlich empfunden, so der Zeuge. Doch Marcus R. wollte noch etwas: Der Mann mit einem Brutto-Jahresgehalt von rund 180.000 Euro bat um einen Bonus für seine Arbeit im Jahr 2022, einen „Top Performance Award“, wie eine solche Sonderzahlung im Unternehmen heißt. „Das würde auch meiner Frau helfen“schrieb R. „Danke und bis bald!“, endete der Brief. Geantwortet habe er nie auf den Brief, sagt der Zeuge.
Der Prozess wird an diesem Mittwoch fortgesetzt.