100 Kilometer Anfahrt für einen Pflegeplatz
Viele Einrichtungen in NRW stehen mit dem Rücken zur Wand, sagen die Träger. Durch Insolvenzen wegfallende Plätze können kaum aufgefangen werden.
Angesichts der Insolvenzwelle bei den Pflegeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen haben Branchenvertreter die Politik dazu aufgerufen, die Situation für die Pflegeheime und ambulanten Pflegedienste zu verbessern. Bei einer Anhörung im Landtag sagte Bernhard Rappenhöner, NRW-Landesvorsitzender des Bundesverbands privater Anbieter, im Zeitraum Juli 2022 bis September 2023 seien 2145 vollstationäre Pflegeplätze in NRW weggefallen. Er warnte vor den Folgen: „Wenn das System kollabiert, haben wir ein Riesenproblem für unsere Produktivität.“
Verfügbarkeit von Plätzen
„Wir haben eine Vielzahl von Einrichtungen in allen Versorgungsbereichen, sowohl stationär als auch teilstationär wie auch in der ambulanten Pflege, die wirklich mit dem Rücken zur Wand stehen“, sagte Rappenhöner. Im Bereich der Kurzzeitpflege gebe es deutlich zu wenig Plätze, warnte er: „Menschen reisen zwischen 80 und 100 Kilometern, um Kurzzeitpflege zu bekommen.“
Fachkräfte Sandra Postel, Vorsitzende der Pflegekammer NRW, verlangte an Pflegeschulen eine deutlich stärkere Unterstützung für die Schüler – etwa durch Sozialarbeiter: „Jetzt kommen die jungen Azubis in die Ausbildung, die echte Corona-Verlierer sind.“Das erfordere deutlich mehr Unterstützungsmaßnahmen, die dann aber auch refinanziert werden müssten. Ulrich Christofczik, Sprecher der Geschäftsführung Evangelische Dienste Duisburg, sagte, zwar sei die Nachfrage nach Kursen enorm hoch: „Das große Problem sind die Abbrecherquoten.“Diese lägen bei 30 Prozent. Das Dilemma sei der hohe Anspruch des Curriculums: „Menschen mit großen Problemen werden gute Fachkräfte, wenn sie gefördert und gefordert werden.“
Insolvenzgefahr „Wir sind in einer tiefen, tiefen Krise“, warnte Christofczik. Die stille Rationierung werde dabei noch gar nicht thematisiert. Einrichtungen würden Menschen im Pflegegrad fünf aufnehmen, obwohl das vorhandene Personal gar nicht die fachliche Qualifikation für deren Betreuung besitze. Die fehlenden Kräfte würden mithilfe von teuren Personaldienstleistern – also Zeitarbeitern – aufgefangen. Deren Kosten würden aber nicht refinanziert. Er verlangte, die öffentliche Hand müsse sich selbstkritisch fragen, wie sie mit den Trägern umgehe. Die Prüfung der Anträge auf Erstattung von Kosten sei komplex. Die Einrichtungen würden oft in erheblichem Umfang in Vorleistungen treten – was zu Ausständen von bis zu einer Million Euro führen könne: „Wir zahlen Strom und Gehälter pünktlich, aber da könnte ein Schutzschirm helfen.“Christofczik regte zudem an, dass man auch über Abschlagszahlungen nachdenken müsse, die dann später spitz abgerechnet würden.
Ein Beispiel dafür, dass Eigeninitiative sogar das Gegenteil bewirken könne, lieferte Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der städtischen Sozial-Holding Mönchengladbach. Man habe auf eigene Kosten die komplette Beleuchtung einer Einrichtung auf sparsamere LED umgerüstet. Kostenpunkt etwa 30.000 Euro. Die dadurch eingesparten Energiekosten seien jedoch bei den Verhandlungen für den Pflegesatz dann abgezogen worden.
„Es darf nicht so sein, dass die Dokumentationen besser gepflegt sind als die Menschen“Ulrich Christofczik Evangelische Dienste Duisburg
Selbstbeteiligung Der Chef der Evangelischen Dienste Duisburg schilderte eine dramatische Lage. Man habe 1500 Plätze – 80 Prozent der Pflegebedürftigen seien aber auf finanzielle Hilfe für die Pflege angewiesen. Christofzik forderte eine Pflegevollversicherung. „Ich finde es toll, dass die Forderungen da sind“, sagte er mit Blick auf NRWGesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), der Sympathien für ein solches System hatte. Auch Wallrafen verwies darauf, dass bereits andere CDU-Politiker wie der frühere CDU-Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, mit der Pflegevollversicherung Werbung gemacht hätten.
Bürokratie Alle Experten einte die Einschätzung, dass in der Pflege die Bürokratie deutlich abgebaut werden müsse, damit die Menschen wieder das tun könnten, wofür sie ausgebildet worden seien. Pflegekammer-Vorsitzende Postel pochte darauf, dass man entsprechend die Digitalisierung voranbringen müsse. Christofczik sagte, man habe nahezu täglich die Prüfer der verschiedenen Behörden im Haus. Es gehe nicht darum, dass man die Pflege sich selbst überlasse, aber er wünsche sich, dass die Prüfbehörden besser zusammenarbeiteten: „Es darf nicht so sein, dass die Dokumentationen besser gepflegt sind als die Menschen.“