„Das Beste zu geben, muss auch mal gut genug sein“
Die zweimalige Olympiasiegerin im Weitsprung spricht über Leistungsdruck, bessere Sportförderung für Talente und warum sich Olympia verändern muss, um junge Menschen zu begeistern.
Frau Drechsler, Sie sind zweimal Olympiasiegerin geworden. Was erwarten Sie von den Sommerspielen in Paris?
HEIKE DRECHSLER Ich habe schon das Gefühl, dass die Vorfreude bei den Sportfans riesig ist, weil die Olympischen Spiele jetzt in Paris, in Europa stattfinden. Und ich hoffe, unter einem sehr guten Stern. Paris kann zeigen, dass es anders geht, als Rio es uns zum Beispiel gezeigt hat. Und ich hoffe, dass dieses große Event dann auch eher von den Menschen getragen wird. Ich finde es zum Beispiel toll, dass die Eröffnungsfeier wirklich auch in der ganzen Innenstadt stattfindet. Wenn man sieht, überall wird das Thema auch gelebt und ist wirklich nah an den Menschen.
Würden Sie sich so ein Erlebnis auch mal wieder in Deutschland wünschen?
DRECHSLER Wir brauchen Olympische Spiele in Deutschland. Das wäre wichtig für den deutschen Sport, um es zum Beispiel so zu machen, wie es die Engländer mit London gemacht haben. Es ist mehr Geld im Pott, und dadurch hat man andere Fördermittel. Die Olympischen Sportarten werden dann schon in der Vorbereitung mehr gesehen. Aber die Menschen müssen Olympia mittragen und den Weg mitgehen. Man muss die jungen Menschen auch dafür gewinnen und schauen, wo sie sich selber einbringen können. Olympische Spiele müssen politisch unterstützt werden und alle müssen in einem Boot sitzen.
Daran scheiterten die Bewerbungen zuletzt. Können Sie die Kritik am Event Olympia nachvollziehen?
DRECHSLER Die Spiele in der Vergangenheit, vor allen Dingen auch die Winterspiele, waren nicht unbedingt von Nachhaltigkeit geprägt. In der heutigen Zeit sollte man genau überprüfen, in welches Land man Spiele gibt, und wo Nachhaltigkeit gegeben ist. Damit die Sportanlagen dann nicht einfach nur für diesen Moment gebaut werden, sondern wirklich nachhaltig genutzt werden können für andere Generationen. Deswegen finde ich es gut, dass Paris jetzt die Chance hat, den Menschen ein anderes Bild zu geben. Dass man das, was schon da ist, in einem neuen Glanz erscheinen lässt und nicht neue, gigantische Sachen baut, die keiner braucht.
Es wird viel darüber diskutiert, ob der Sport politisch sein darf oder nicht…
DRECHSLER Er ist immer politisch. Wir haben das früher in DDR-Zeiten immer versucht auszuschließen, und wir haben uns auf den Sport konzentriert. Aber die politische Entscheidung, die 1984 von der DDR getroffen worden ist, nicht zu den Olympischen Spielen zu fahren, hat uns ja auch beeinflusst. Also ist alles irgendwo politisch. Gerade jetzt können aber Olympische Spiele trotzdem ein positives Signal sein.
Es gibt Regeln, die man versuchen muss, einzuhalten. Aber man hat ja kein Mundverbot als Sportlerin und Sportler. Wenn Dinge nicht gut sind, dann kann man die auch ansprechen. Nehmen wir das Thema Rassismus, auf das in den 60er-Jahren von den amerikanischen Sprintern mit der erhobenen Faust aufmerksam gemacht wurde, das sind zum Beispiel klare Signale, die Sportlerinnen und Sportler senden können. Man muss nur gucken, wie man das
im Rahmen der Regeln machen kann. Aber es wird immer politisch sein und ich bin auch der Meinung, dass Sportlerinnen und Sportler ein Recht haben, ihre Probleme vorzutragen.
Das Internationale Olympische Komitee will mit Sportarten wie Klettern oder Breaking, die in den sozialen Netzwerken sehr präsent sind, jüngere Generationen ansprechen. Ist das der richtige Weg?
DRECHSLER Natürlich verändern junge Leute auch das Bild des Sports nach außen. Man merkt das auch an den Disziplinen. Nehmen wir zum Beispiel den Modernen Fünfkampf. Reiten, Schießen – das sind Disziplinen, die in der Kriegszeit dominant waren. Die haben eine lange Tradition, das darf man auch nicht vergessen. Ich bin immer für Tradition, aber es braucht auch den Blick auf neue Sportarten. Olympia muss sich weiterentwickeln. Es muss für die jungen Leute passen, damit es ihnen auch einen Wert und Sinn gibt.
In Deutschland steckt der Spitzensport in vielen Disziplinen in der Krise. Sportlerinnen und Sportler kritisieren immer wieder, dass nur Medaillen zählen. Wie sehen Sie das?
DRECHSLER Leistungen werden in unserer Gesellschaft immer gefragt und gefordert sein. Aber ich bin auch der Meinung, das Beste zu geben, muss manchmal auch im Spitzensport gut genug sein. Auf die Leichtathletik-WM hat jeder geschaut und in Budapest sind wir zum ersten Mal nach langer Zeit ohne Medaille geblieben. In der Außendarstellung ist das hart, aber wenn man jetzt genauer schaut, sind es auch Athleten gewesen, die sehr jung waren, die die Chance bekommen haben, an Weltmeisterschaften teilzunehmen, und die haben ihr Bestes gegeben. Die Gesellschaft sollte sehen, dass das in dem Fall auch Anerkennung verdient. Der Leistungsgedanke wird trotzdem immer da sein, weil Sport von Fördermitteln und von Sponsoren lebt. Und die wollen Leistung sehen.
Die Fördermittel sind allerdings in Deutschland ein großes Streitthema. Die Höhe hängt von den Erfolgen ab. Das System sehen viele Verbände kritisch. Wie sehen Sie die Situation in ihrer Sportart, der Leichtathletik?
DRECHSLER Wenn man es mit anderen Sportarten vergleicht, steckt in der Leichtathletik zu wenig Geld. Und es wird gekürzt, wenn dann die Leistungen nicht kommen. Wir müssen schauen, dass wir unsere Sportart professionell aufstellen. Ohne professionelle Strukturen können wir nicht in der Spitze mithalten. Ein Beispiel ist die Medienpräsenz. Es ist wichtig, dass die Aktiven wahrgenommen werden. Wir hatten jetzt die Hallen-WM. Bei der Hallen-WM waren ganz viele internationale Topstars da. Wo sind denn unsere Leute gewesen? Wir haben eine Medaille gewonnen, weil nur sieben Deutsche dabei waren. Klar, die WM ist im Olympiajahr, aber so eine WM ist als Zwischenziel manchmal wichtig. Gleichzeitig wurde die WM nur im Streaming gezeigt. Wenn wir nicht gesehen werden, ist das traurig, denn es sind tolle Wettbewerbe.
Müsste man den Sportlern auch bessere Rahmenbedingungen bieten, um erfolgreicher zu sein?
DRECHSLER Die Rahmenbedingungen spielen eine sehr große Rolle. Aber man darf auch nicht vergessen, dass viele junge Menschen eher in der digitalen Welt leben als in Präsenz auf dem Sportplatz. Das nimmt uns auch viele Talente. Neue Sportarten kommen hinzu, das Freizeitangebot ist vielseitig. Meine Sportart hat Probleme, neue, junge Talente zu bekommen. Die sind vielleicht da, aber das Sichtungssystem funktioniert bei uns ganz schlecht. Und dann gibt es das Problem der Trainer. Von denen gibt es zum einen nach der Corona-Zeit zu wenige. Zum anderen müsste es eigentlich auch eine gute Berufsbezeichnung und Ausbildung für sie geben. Denn Trainer haben eine Riesenverantwortung, gerade im Kinderbereich. Der Breitensport ist wichtig, damit sich die Spitze entwickeln kann. Wir haben zu wenige, die den Weg nach oben finden. An der Basis braucht es daher wirklich gut ausgebildete Trainer.
Das kann aber nicht die einzige Antwort sein…
DRECHSLER Die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, Studium, Beruf und Sport irgendwie unter einen Hut zu bekommen. Dafür haben wir in Deutschland Möglichkeiten, aber zu wenige. Es können nur Ausnahmeerscheinungen am Ende auch vom Sport leben. Deshalb müssen Athletinnen und Athleten unterstützt werden, damit sie sich gar keine Gedanken über solche Themen machen müssen und sich auf Olympische Spiele vorbereiten können. Dann bleiben uns vielleicht auch mehr Talente erhalten.
Die müssen dann aber noch den Weg in die Weltspitze finden. Viele scheitern schon vorher.
DRECHSLER Wenn man nicht so viele gute eigene Athleten in der Breite hat, wäre es eine Idee, offene Meisterschaften anzubieten, an denen auch internationale Konkurrenz teilnehmen kann. Die USA haben zum Beispiel offene Championships. Dort kommt man mit der Konkurrenz auch schon vor den internationalen, großen Wettkämpfen zusammen. Es ist wichtig, dass man sich in der Spitze mit guten Leuten misst. Und gute Talente, die noch nicht in der Spitze sind, haben zu wenige Möglichkeiten, einen Startplatz bei internationalen Meetings zu bekommen. Aber sie brauchen Wettkämpfe. Auch Schülerinnen und Schüler brauchen gute Länderwettkämpfe, bei denen sie sich mit anderen Nationen vergleichen können. Es ist wichtig, dass die Talente sehen, wo sie im internationalen Vergleich stehen. Das sind Erfahrungen, die sie sammeln und die motivieren. Das ist zu wenig, was in dem Bereich aktuell passiert.