Mörderische Geister der Vergangenheit
Mit „Knife“verarbeitet der vom Iran verfolgte Salman Rushdie den auf ihn verübten Anschlag von 2022 literarisch – und mit Humor.
Dieses Buch beginnt wie ein ungewöhnlicher Film. Ein Film in Zeitlupe. Wie ein junger Mann im Amphitheater an der New Yorker Chautauqua Institution im Publikum aufspringt, losrennt, rasch näherkommt. Und Salman Rushdie? „Ich beobachte jeden einzelnen Schritt seines ungestümen Laufs, und ich sehe, wie ich mich aufrichte und zu ihm umdrehe. Ich bleibe ihm zugewandt. Ich habe ihm nie den Rücken zugekehrt. Mein Rücken weist keine Verletzungen auf. Um mich zu schützen, hebe ich die linke Hand. Er stößt das Messer hinein.“
Der schwarz gekleidete Mann wird das Letzte sein, was sein rechtes Auge sieht. Es folgen viele Stiche, überallhin: In Rushdies Nacken, in seine Brust, in sein Auge, das für immer blind ist und mit einer schwarzen Augenklappe bedeckt wird. Dann spürt der 76-Jährige, wie seine Beine nachgeben und er fällt.
Es ist der 12. August 2022, ein sonniger Freitagmorgen, als Salman Rushdie von einem Attentäter angegriffen wird. Die Ärzte werden ihm später sagen, dass sie nicht mit seinem Überleben gerechnet hätten. Mehr als 33 Jahre waren bis dahin vergangen, seit der iranische Ajatollah Ruhollah Chomeini eine Fatwa gegen Rushdie verhängt hatte – ein Todesurteil gegen ihn sowie all jene, die zur Veröffentlichung seines Romans „Die satanischen Verse“beitragen würden. Auch 2022 schien die Gefahr nicht vollends gebannt, doch mit einem Attentat rechnete kaum noch jemand. Auch Rushdie nicht.
Der Tod sei auf ihn zugekommen, und er habe nichts Besonderes daran gefunden. „Ich fand ihn nur anachronistisch. Das war mein zweiter Gedanke: Warum heute? Echt jetzt? Es ist so lang her. Warum heute? Warum nach all den Jahren?“Ein Zeitreisender sei der Attentäter für ihn gewesen, ein mörderischer Geist aus der Vergangenheit.
Rushdie hat sich geraume Zeit dagegen gesträubt, über das Attentat ein Buch zu schreiben. Literatur als Therapie ist nicht sein Ding; dann hat er es doch getan, und geboren wurde ein Werk, das mehr als bloß
ein Überlebensbericht ist. „Knife“heißt es bezeichnenderweise und erscheint an diesem Dienstag in mehr als 15 Ländern.
„Knife“ist – so haarsträubend es klingt – auch ein unterhaltsames Buch geworden. Manchmal schelmisch, vor allem unerschrocken, nie betulich. Weil Rushdie ein Erzähler und Bewohner des „Prosastaates“ist, liebt er Geschichten, schreibt, was er meint, oft mit kindlicher Freude und Direktheit. So bleibt der Attentäter namenlos, wird nur mit A. abgekürzt, „schicklicherweise“, wie Rushdie schreibt, denn in Gedanken nennt er ihn immer nur „Arschloch“. Wie anders soll man einen Mann auch nennen, der offenbar die Mühe scheute, sich über jenen Mann ein bisschen genauer zu informieren, den er töten wollte.
Den eigenen Worten zufolge hatte A. kaum zwei Seiten aus Rushdies Büchern gelesen, ein paar Filme auf Youtube über den Autor angesehen – „mehr war nicht nötig“.
Worum ging es dann eigentlich bei diesem Mordanschlag? Das herauszufinden, ist der Sinn von „Knife“. Und dazu begibt sich das Opfer auf abenteuerliche Reise in den Kopf seines Täters. In vier „Sitzungen“führen beide ein Gespräch, das nie stattgefunden hat. Das Rushdie also erfindet und das ihm auch dadurch Befriedigung schenkt, weil er es als Autor beenden kann, wann er will.
Es geht darin um Toleranz für Andersund Nichtgläubige, um Widersprüche, um die Psyche des Täters: der in Computerwelten das Töten übte und der sich im Saal dann gar nicht mehr so sicher war, ob er fähig zur Tat ist, glaubt Rushdie. „Und dann haben die rennenden Füße Sie über jenen Punkt hinausgetragen, an dem es noch ein Zurück gegeben hätte; Sie konnten nicht mehr abbrechen. Gleich darauf standen Sie unmittelbar vor mir, und da war ich: Realität. Reale, echte, durch und durch wirkliche Realität, die auf eigenen Füßen stand, Sie ansah, Ihnen in die Augen blickte.“Plötzlich die Konfrontation mit dem eigenen Versagen, den Enttäuschungen und dem Drang, jemandem die Schuld zu geben. Rushdie ist sich sicher, dass A., als er zustach, Angst hatte, Todesangst: „Denn der, der in einer Welt der Fiktionen hauste, das waren Sie, und jetzt erlebten Sie, was es bedeutete, von der Fiktion in die reale Welt geführt zu werden, also hin zu Mord und zur Zerstörung
Ihres eigenen Lebens.“Die Antwort ist Schweigen.
Rushdie sucht nach Motiven, nicht aber nach irgendwelchen Entschuldigungen. Vielmehr fährt er zum Gefängnis, in dem der Täter einsitzt, und lässt sich von seiner Frau, der Dichterin Rachel Eliza Griffiths, munter davor fotografieren, bis diese das makabre Shooting rigoros beendet: „Schluss jetzt!“, sagt sie, „und du solltest aufhören, so zu grinsen und herumzuhopsen.“Zuvor hatte sich Rushdie erkundigt, wie hoch die Strafe ausfallen könnte. Na ja, grob geschätzt dürfte der Täter irgendwas zwischen 30 und 40 Jahre absitzen, hieß es. Darauf Rushdie: „In 40 Jahren bin ich 116. Damit kann ich leben.“
Knife ist trotz seines bitteren Titels auch eine seitenlange, bewegende Liebeserklärung an Rushdies Frau. Wenige Tage vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt gab sich der Autor aufgeräumt, nannte die Ehrung das Sahnehäubchen seiner Karriere und amüsierte sich darüber, erstmals in einer Kirche zu sprechen – der Frankfurter Paulskirche. Es war offensichtlich, dass Rushdie sich die Normalität zurückerobern wollte.
Dazu musste „Knife“geschrieben werden, musste das Attentat erzählt und zu einer Geschichte werden. Es sei für ihn unmöglich, sagte der Schriftsteller damals, „über irgendetwas Anderes zu schreiben, bevor ich nicht über dieses Attentat geschrieben habe“. Doch abgehakt wird es nie sein. Das weiß Rushdie besser als jeder andere. Immer wird er damit zeitlebens identifiziert werden. „Das Messer definiert mich. Ich kann mich dagegen wehren, fürchte aber, ich werde den Kampf verlieren“, schreibt er. Darum auch eine Ich-Geschichte. „Wenn fünfzehnmal auf einen eingestochen wurde, fühlt sich das definitiv nach erster Person an.“
Der große Erzähler Rushdie wird aber nicht erst nach „Knife“zurückkehren. Er ist schon da mit diesem Buch. Denn solange wir erzählen, leben wir, wusste schon Scheherazade, die Erzählerin aus 1001 Nacht. Rushdie hat viel zu erzählen.