Was Bayer von Bayer lernen kann
Verein und Konzern gehören fest zusammen und gehen doch sehr verschiedene Wege. Erfolgsgipfel hier, Abstieg dort. Warum?
Beide gehören zusammen und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Hier der Fußballverein, der mit dem Meistertitel seine 120-jährige Vereinsgeschichte krönt. Der in der Heimatstadt Begeisterungsstürme auslöst und selbst beim internationalen Fachpublikum nach einer in allen Wettbewerben bisher erfolgreichen Saison nur höchste Anerkennung genießt. Dort ein Chemie-Konzern auf Abstiegskurs, der seine überwiegend hausgemachten Probleme nicht in den Griff bekommt, stetig an Wert verliert und vor der Zerschlagung stehen könnte. Wie kann das sein?
Zugegeben, der Vergleich ist gewagt, denn natürlich ist ein Weltkonzern kein Fußballverein. Derzeit beschäftigt Bayer weltweit fast 100.000 Menschen. Der Werksclub gerade mal 350. Und doch haben sich in den vergangenen 120 Jahren Fußballvereine zu Wirtschaftsunternehmen, der Sport zum internationalen Geschäft mit Milliardenumsätzen entwickelt.
Erfolg ist längst nicht mehr abhängig von guten Kickern aus dem lokalen Umfeld, sondern von klugen Investitionen und möglichst perfektem Management. Und genau dafür ist der Werksclub europaweit zu einem Musterbeispiel geworden. Was also kann Bayer von Bayer lernen?
Einkaufspolitik Bayer 04 hat immer schon gut investiert. Unvergessen und skurril sind Reiner Calmunds Reisen in den Osten mit dem Bargeldkoffer im Gepäck, um Spieler wie Ulf Kirsten und Andreas Thom an die Angel zu nehmen. Im Laufe der Jahre aber wurde das System der Einkaufspolitik perfektioniert. Fehlkäufe waren selten, meist wurden Spieler weit teurer verkauft als sie erworben wurden. Spektakuläre Verkäufe wie der von Aturo Vidal 2011 für zwölf Mio. Euro an Juventus Turin spülten immer wieder Geld in die Kassen. Gute Platzierungen brachten Fernsehgelder, so dass die kolportierten 25 Millionen Jahreszuschuss der Bayer AG wichtig, aber auch nicht lebenswichtig für die 100-prozentige Tochter der Bayer AG blieben.
Fernando Carro und vor allem Simon Rolfes perfektionierten das unter Calmund, Völler, Holzhäuser und Schade etablierte System. Die 2020 aus dem Verkauf von Kai Havertz an Chelsea erlösten 80 Millionen Euro (durch Bonuszahlungen kamen weitere 20 Millionen Euro hinzu) wurden klug in neue Spieler investiert. „Also war die Strategie, das Geld von Kai zu investieren in junge Spieler, denen wir aber zutrauen,
irgendwann auch Topspieler zu werden, wie eben Moussa Diaby, Edmond Tapsoba, Jeremie Frimpong, Exequiel Palacios und Florian Wirtz. Diese fünf haben wir alle in dem Wissen geholt, dass wir Kai verkaufen werden“, sagte Rolfes der Süddeutschen Zeitung. Diaby wechselte im Sommer für mehr als 50 Millionen Euro zu Aston Villa.
Für ungefähr für diese Summe kamen Alejandro Grimaldo (Benfica Lissabon), Granit Xhaka (Arsenal London), Jonas Hofmann (Borussia Mönchengladbach) und Victor Boniface (Union St. Gilloise). Der Plan sollte aufgehen. Es fehlte noch der richtige Trainer. Mit Xabi Alonso einen früheren Weltklassespieler zu verpflichten, der als Trainer so gut wie keine Erfahrung hatte und
die aktuelle deutsche Liga allenfalls aus dem TV kannte, war ein Wagnis. Es funktionierte. Alonso holte die Werkself vom Abstiegsrang und führte sie zur deutschen Meisterschaft.
Anders läuft‘s beim Bayer-Konzern. Auch hier wurde der „Trainer“ausgetauscht, um einen weiteren Abstieg zu verhindern. Bill Anderson kam für Werner Baumann. Seit dem 1. Juni 2023 führt der Amerikaner als Vorstandschef die Geschäfte des Konzerns und hat die Entlassung von 5000 Mitarbeitern aus dem mittleren Management angekündigt.
Doch bleibt der erhoffte Aufschwung bisher aus: Der albtraumhafte Monsanto-Deal hängt weiter wie ein Mühlstein am Hals des Unternehmens.
Der Aktienkurs sinkt binnen eines Jahres von 61,69 auf 26,95 Euro. Vor zehn Jahren lag er weit über 100 Euro.
Fans Erfolg schafft Zuspruch. Seit dem Start von Bayers fulminanter Siegesserie hat sich die Zahl der Vereinsmitglieder um 10.000 auf rund 50.000 erhöht. Das Stadion ist fast durchgängig ausverkauft, Saison-Trikots sind kaum noch zubekommen. Die BayArena ist optisch wie akustisch bei Heimspielen eine Fußball-Burg geworden.
Währenddessen hält der WeltKonzern seine Fans, die Aktionäre, möglichst von sich fern. Die Bilanzpressekonferenz wurde nach England ausgelagert, in englischer Sprache und weiterhin digital kommuniziert, die Aktionärsversammlung Ende April läuft – wie seit einigen Jahren schon – virtuell. Die frühere Natural-Dividende in Form von Essen während des Aktionärstreffens entfällt. Auf einen zumindest finanziellen Erfolg müssen die arg gebeutelten Anteilseigner wohl noch länger warten. Dividendenausschüttung 2024: voraussichtlich schlanke elf Cent je Aktie.
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Lange war Bayer 04 Leverkusen, der mit der 100-prozentigen Konzernbeteiligung im Ligabetrieb als Ausnahme geführt wird, in Fußballerkreisen als „Chemieclub“mit Geld, aber ohne Fantradition gelistet. Das knappe Scheitern in entscheidenden Finalrunden brachte ihm den Spottnamen „Vizekusen“. Der Club drehte den Spieß um, machte „Werkself“zum Markenzeichen: ehrliche Arbeit unter dem Bayer-Kreuz. Eine Fanarbeit auf Augenhöhe, die Spieler-Legenden wie Rüdiger Vollborn und Stefan Kiesling unterstützen, kommt hinzu. Der „Heimatverein“hat deutlich Profil gewonnen. Und: Es gibt einen Fanclub auch in Moskau.
Der Konzern hingegen schrumpft und entfernt sich zunehmend von seinen Wurzeln. Wirtschaft und Sport – institutionell seit 120 Jahren eine Einheit, doch zeigen die Wege in unterschiedliche Richtungen.