Nach Russlands Regeln
Vor mehr als zehn Jahren entriss Putin der Ukraine die Krim unter Bruch des Völkerrechts. Seitdem leben die Menschen dort nach den Vorgaben Moskaus. Nicht alle finden das schlecht. Eine Reise über die umkämpfte KertschBrücke auf die Halbinsel.
(dpa) An der Uferpromenade von Sewastopol sind die Gehwege stellenweise aufgerissen wie nach einem Drohneneinschlag. Aber Passanten betonen, die Schäden stammten nur von einem schweren Wintersturm – und nicht von ukrainischen Angriffen. „Nicht fotografieren, die Bucht“, raunzt dann gleich eine ältere Frau. Zu sehen sind Flugabwehrsysteme auf alten Festungsanlagen der in den vergangenen Jahrhunderten oft umkämpften Hafenstadt. „Wir sind wachsam hier gegen Saboteure und Spione.“
Immer wieder gibt es Angriffe aus der Ukraine, die ihre vor zehn Jahren von Russland annektierte Halbinsel zurückerobern will. Im Blickpunkt steht dabei besonders auch im Osten der Krim die 19 Kilometer lange Kertsch-Brücke, über die Züge rollen – auch bis nach Sewastopol. Großes Thema ist die Brücke wieder, seit in einem von den Russen abgehörten Gespräch Luftwaffenoffiziere der Bundeswehr diskutierten, wie sie etwa mit deutschen Taurus-Marschflugkörpern zerstört werden könnte. Taurus-Lieferungen aus Deutschland stehen absehbar nicht an. Die Ukraine will dennoch die Verbindung der Krim zu Russland kappen.
In der Bucht von Sewastopol, in der einige Kriegsschiffe ankern, herrscht gespannte Ruhe. Barrieren schwimmen auf der Oberfläche. Sie sollen Angriffe von Drohnen abwehren, um die hier beheimatete russische Schwarzmeerflotte zu schützen. Als Russland vor zehn Jahren nach dem Sturz des moskaufreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch in Kiew seinen Einfluss hier endgültig zu verlieren drohte, zog Kremlchef Wladimir Putin blitzartig in knapp einem Monat die Annexion durch – unter Bruch des Völkerrechts. Mindestens sechs Menschen starben. Am 18. März 2014 besiegelte er die Eingliederung der Krim mit mehr als zwei Millionen Einwohnern in die Russische Föderation. Kaum ein Staat erkennt das an.
Gut zehn Jahre später ist die Anspannung in Sewastopol mit den Händen greifbar. Der Schock sitzt tief, nachdem die Ukraine in ihrem Kampf gegen Putins Angriffskrieg mehrere russische Kriegsschiffe versenkt hat. „Die häufigen Luftalarme setzen uns zu, ich kenne schon mehrere Schutzbunker von innen“, erzählt die Mittvierzigerin Irina. Sie steht auf dem prachtvollen Nachimow-Prospekt am Hotel Sewastopol. Von dort ist auch das durch einen ukrainischen Angriff zerstörte Hauptquartier der Schwarzmeerflotte zu sehen.
Das Dach ist zertrümmert, das Gemäuer eingerissen; Gesteinsbrocken liegen auf dem Rasen. Der Schaden ist massiv – aber kein Vergleich zu den todbringenden Zerstörungen, mit denen Russland seit Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 weite Teile der Ukraine überzieht. Wer mit Passanten spricht, findet fast durchweg stoisch kämpferische Bewohner, obwohl selbst Behörden einräumen, dass es „Saboteure“gebe, die den ukrainischen Kampf für eine Rückeroberung der Halbinsel unterstützen. Offen sprechen Menschen in Sewastopol über ihre Trauer um die Gefallenen; viele bedauern die zerrissenen Bande zu Familienangehörigen in der Ukraine. Trotzdem überwiegt bei vielen der Stolz, Teil Russlands, einer Atommacht, zu sein.
„Wladimir Putin hat uns gerettet“, sagt ein Rentner an der ewigen Flamme, die an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erinnert. Der Senior freut sich, anders als früher seien die Renten höher – und stabil. spontan bei Gesprächen auf
Nahe der Uferpromenade ziehen der Straße, dass sie auf ein baldiges Kräne einen riesigen neuen Komplex Ende des Krieges hoffen. Ihre Klagen hoch. Ein großes Musiktheater drehen sich aber besonders um die für Oper, Konzerte und Ballett sowie strengen russischen Gesetze und die neue Wohnungen entstehen. Bürokratie, vieles härter als unter Die heutigen Statthalter machen ukrainischer Führung. Aber offen
nd den Bürgern über die Kremlpropaganda reden manche lieber nicht. in den gleichgeschalteten Ein älterer Mann schimpft auch, Staatsmedien klar, wem sie für den es sei gefährlich, in der Öffentlichkeit Aufschwung danken sollen. eine andere Meinung als die
Von Sewastopol aus geht es durch des Kreml zu vertreten. Jobverlust Weinanbaugebiete und entlang oder Haft könnten drohen. Aber der Küste mit den karstigen Felsformationen obwohl er wie viele noch seinen ukrainischen und den grünen Zypressenhainen Pass hat und doch gehen in den entfernten könnte, will er bleiben, sich anpassen. subtropischen Kurort Jalta. Von der Ob er die ukrainische Führung Landstraße aus sind sie zu sehen, die lieber wieder zurückhätte? „Auf gar schmucken Sanatorien, keinen Fall“, Hotels, platzt es aus prächtigen Villen, ihm heraus. Luxusappartements Damals habe samt Meerblick. das Chaos regiert. Während Der Mann viele Ukrainer, lobt etwa, dass auch die Familie es die neue von Präsident Tawrida-Autobahn Wolodymyr Selenskyj, ihren Besitz gibt und die Fahrtzeiten kürzer verloren haben, breiten sich reiche geworden sind.
Russen aus. Die Immobilienpreise Gesteuert wird die Krim von Simferopol auf der Krim sind seit der Annexion aus. Die Hauptstadt liegt von in die Höhe geschossen. Jalta mit dem Auto etwa anderthalb
An der Uferpromenade, wo neben Stunden entfernt. Der große Bahnhof, Palmen ein riesiges Lenin-Denkmal an dem die Züge aus Moskau steht, schlendern Touristen. Die und anderen Städten ankommen, ist Restaurants sind gut besucht, alle wichtigster Verkehrsknotenpunkt. paar Meter gibt es Geschäfte mit Seit der moderne Flughafen kriegsbedingt Naturkosmetik von der Krim. „Wir geschlossen ist, bleiben Reisenden fühlen uns wieder zu Hause, seit nur die Bahn, Bus oder Auto. Russland uns aufgenommen hat“, An den blauen Stadtbussen am sagt die Deutsch- und Englischlehrerin Bahnhof erinnert Werbung an den Natalja Fomina. Sie engagiert zehnten Jahrestag der Einverleibung sich für die Gemeinschaft der KrimDeutschen. der Krim durch Russland. Ein herausgeputzter Der Kontakt zu Freunden Park mit nagelneuen in Deutschland lebe trotz der Geräten auf einem Spielplatz erstreckt Isolation und trotz der westlichen sich Richtung Innenstadt. Sanktionen. „Aber wir wünschen Indische Studenten sitzen auf den uns natürlich mehr humanitäre Parkbänken. „Wir studieren hier Medizin“, Kontakte auch in diesen Zeiten.“sagt ein Student aus Mumbai
Auch in Jalta sagen viele Menschen erst in brüchigem Russisch, dann
auf Englisch. Mehr als 5000 Inder studierten hier. Der Abschluss von der Krim zähle in Indien, wo es für viele junge Menschen kaum Chancen gebe, Arzt zu werden.
Ein junges russisches Paar erzählt glücklich, dass heute viel mehr getan werde für den öffentlichen Raum – auch auf den Kinderspielplätzen in den Wohngebieten. „Schauen Sie sich um, es ist sauber und schön. Aber alles ist sehr teuer geworden“, sagt der junge Mann. Seine Frau nickt, 5000 Rubel (rund 500 Euro) seien schon ein vergleichsweise gutes Monatseinkommen. „Eine Wohnung können sich die Menschen davon nicht kaufen“, sagt er.
Das Leben in der Stadt pulsiert, Jugendliche tanzen in der Fußgängerzone mit den modernen Cafés, Bars und Restaurants. Ein Denkmal zeigt einen Soldaten in schwerer Kampfmontur, dem ein Mädchen Blumen schenkt – die Skulptur erinnert daran, wie Putin Ende Februar 2014 „grüne Männlein“in Uniform ohne Hoheitszeichen auf die Krim schickte, um die Annexion auch militärisch durchzudrücken.
Tausende Menschen leisteten damals Widerstand gegen die Okkupation, wie sich die Krim-Tatarin Tamila Taschewa in Kiew erinnert. „Ukrainer und Krim-Tataren drückten ihren Protest gegen die Besatzer aus, organisierten Märsche und Proteste, brachten ihr Leben in Gefahr“, sagt die ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik. Es habe Festnahmen und Entführungen gegeben. Zahlreiche Krim-Tataren gelten bis heute als vermisst. Zehn
Jahre Annexion seien ein Jahrzehnt mit politischer Verfolgung, mehr als 200 politische Gefangene gebe es heute auf der Krim, sagt Taschewa. Etwa 70.000 Menschen hätten die Halbinsel seither verlassen.
Auch die Vereinten Nationen und die EU beklagen massive Menschenrechtsverstöße auf der Krim. Das Parlament der Krim-Tataren ist aufgelöst, Medien sind blockiert. Aber die meisten Tataren sind geblieben. Mit einer neuen Großmoschee, die allen sanktionsbedingten Behinderungen zum Trotz nun kurz vor der Eröffnung steht, will Putin zumindest einen Teil der muslimischen Minderheit friedlich stimmen. Eine große Fassadenmalerei an einem Gebäude gegenüber der russischorthodoxen Hauptkirche zeigt ein Porträt, das Putin ähnelt. Es erinnert daran, wer hier die Macht hat.
Moskaus Statthalter Sergej Aksjonow, der offiziell den Namen Republikchef trägt und von Kiew als Hochverräter gesucht wird, zeigt sich in seinem Regierungssitz im Zentrum zufrieden mit dem Erreichten. Das Leben auf der Halbinsel laufe normal. „Die Sorgen der Menschen sind wie überall gleich, da geht es um Löhne, Renten, Einkommen eben, und um Preise für Lebensmittel und Medikamente“, sagt der 51-Jährige.
Zwar könne es wegen der Sicherheitslage und der Frontnähe keine großen Feiern zum zehnten Jahrestag des Beitritts zu Russland geben. Grund zum Feiern gebe es trotzdem. Die Halbinsel sei heute eine aufstrebende Region. Es gebe zwar bisweilen Probleme bei der Lieferung von Waren und Gütern, wenn etwa die Krim-Brücke wegen Raketengefahr geschlossen werde. „Aber das ist das einzige logistische Problem. Das ist lösbar“, sagt Aksjonow.
Gut 27,5 Stunden dauert die Zugfahrt im „Grand Service Express“nach Moskau. Erst führt sie durch die blasse Krim-Steppe. Vom Fenster aus zu sehen sind marode Industrieanlagen, verlassene Häuser und verfallene Stallungen in fast menschenleeren Siedlungen. Kaum Militär. Auf einem Eisenbahnfriedhof rosten Dutzende ukrainische Zugwaggons in ausgeblichenen blaugelben Staatsfarben vor sich hin.
Und dann kommt sie, die KrimBrücke, die von Kertsch zum russischen Kernland führt. 2022 und 2023 gab es bei Angriffen schwere Schäden an dem markanten Viadukt. Immer wieder wird auch der Verkehr gestoppt bei Luftalarm. Aber diesmal bleibt alles ruhig. Der Zug kommt am nächsten Tag in Moskau an – auf die Minute pünktlich.
„Wir fühlen uns hier wieder zu Hause, seit Russland uns aufgenommen hat“Natalja Fomina Deutschlehrerin
„Die Sorgen der Menschen sind wie überall gleich, da geht es um Löhne und Lebensmittelpreise“Sergej Aksjonow Moskaus Statthalter auf der Krim