Rheinische Post Opladen

Ich bin nur noch ein Gespenst, das lautlos weint

Unser Kollege Tim Braune erkrankte nach einer Corona-Infektion an Long Covid und an ME/CFS. Hier berichtet er von seinem Kampf um eine gute medizinisc­he Versorgung. Und von einer Superheldi­n: seiner Mutter.

- VON TIM BRAUNE

Im Frühjahr 2022 erkrankte Tim Braune, unser Chefreport­er im Berliner Parlaments­büro, nach einer Corona-Infektion – trotz dreimalige­r Impfung – schwer an Long Covid und ME/CFS. Dabei handelt es sich um Myalgische Enzephalom­yelitis, das Chronische Fatigue-Syndrom, eine schwere neuroimmun­ologische Erkrankung, die häufig zu einem hohen Grad an körperlich­en Einschränk­ungen führt. Dabei kann es nach geistiger und/oder körperlich­er Überanstre­ngung zu einem sogenannte­n Crash mit folgender totaler Erschöpfun­g kommen.

Seit April ist der 49-jährige Vater vorerst Rentner. Jetzt hat er seine Leidensges­chichte aufgeschri­eben: berührend, schonungsl­os ehrlich, mitunter auch anklagend und mit neuen Ideen für eine bessere Patientenv­ersorgung. Seine Schwester Barbara wird diesen Text an diesem Samstag auf dem Kölner Heumarkt vortragen – anlässlich des bundesweit­en ME/CFS-Aufmerksam­keitstags am Sonntag. Hier ist er schon heute zu lesen.

Mein damaliger Hausarzt in Berlin sagte im Februar 2022 zu mir: „Erschießen Sie sich lieber, ist billiger.“Nach der Corona-Infektion war die Erschöpfun­g (Fatigue) immer stärker geworden. Ich bat meinen Arzt um ein Rezept für Osteopathi­e. Stattdesse­n verhöhnte er mich. Ich war geschockt. Am nächsten Tag suchte ich mir nach 15 Jahren eine neue, empathisch­e Hausärztin.

Auch in der Nähe von Bielefeld, wo ich nach einem Mega-Crash im Sommer 2023 als Pflegefall gelandet war, traf ich auf Ärzte mit einem seltsamen Berufsvers­tändnis. Acht von zehn angefragte­n Ärztinnen und Ärzten lehnten meine Behandlung ab. Zu aufwendig, keine Ahnung, keine Zeit.

Der neunte überfiel mich abends um 20.15 Uhr, entgegen allen Vorabsprac­hen. Ich schlief schon. Er weckte mich mit lautem Rufen. Ich beschwerte mich, er solle wieder gehen, die Crash-Gefahr sei zu groß. Er blieb und machte mich 20 Minuten lang nieder. ME/CFS gebe es nicht: „Das ist eine erfundene Krankheit.“Und meine Diagnose von der Charité, einer der besten Kliniken der Welt? „Schnicksch­nack, alles nur Vermutunge­n.“Ich hätte mir meine Symptome angelesen. Als er ging, kam eine Stunde später ein schwerer Zusammenbr­uch. Ich weinte vor Wut und Verzweiflu­ng.

In Normalform hätte ich ihn argumentat­iv an die Wand genagelt. How dare you? Wie kann ein Arzt so etwas tun? Das grenzte für mich an Körperverl­etzung. Dabei erkannte die Weltgesund­heitsorgan­isation schon vor 70 Jahren das Chronische Fatigue-Syndrom als eine eigenständ­ige Krankheit an. Heute stellt dies – nach der Pandemie und dem Auftreten des verwandten Long Covid – kein ernst zu nehmender Politiker, Wissenscha­ftler und Arzt mehr infrage. Zum Glück gibt es auch viele tolle Mediziner, die uns Patienten auf Augenhöhe und mit Respekt behandeln.

Ich verpasse alles. Die ersten Mädchenbes­uche für meinen 15-jährigen Sohn bei uns zu Hause. Die tollen Basketball­spiele meiner mittleren Tochter. Die ersten beiden Schuljahre der Jüngsten. Meine Arbeit, die ich so gerne mache. Die Reisen mit der Familie, die Freunde, das Rennradfah­ren, Bücher, Musikhören. Ich verpasse alles. Ich werde immer unsichtbar­er. Ich bin nur noch ein Gespenst, das lautlos weint.

Einmal waren die Kinder wieder bei mir in Ostwestfal­en zu Besuch, wo ich in meinem Elternhaus von meiner Mutter versorgt werde. Abends kam die damals Siebenjähr­ige zu mir ins Bett. Ich war so glücklich und stolz, dass ich das zum ersten Mal wieder aushalten konnte. Meine Glücksgefü­hle waren stärker als die Reizüberla­stung. Sonst durfte niemand nach 18 Uhr mein Zimmer betreten, zu groß war die Crash-Gefahr. Im Dunkeln setzte sie sich plötzlich auf und fragte: „Papa, stirbst du bald?“Ich beruhigte sie: „Nein, an Long Covid stirbt man nicht.“Drei Minuten später fragte sie weiter: „Kann es sein, dass du nie wieder gesund wirst?“Ich überlegte verzweifel­t. Sollte ich dieses wunderbare Mädchen mit seinem grenzenlos­en Vertrauen in mich anlügen, ihm die Hoffnung nehmen, dass wir bald wieder um die Wette zur Eisdiele flitzen? Nein, ich musste meiner Tochter die Wahrheit sagen: „Ja, vielleicht werde ich nie wieder gesund.“Wir umarmten uns und weinten lange.

Ohne unsere Familien und Freunde wären wir längst verloren. Die älteste meiner drei Schwestern ist die Leitwölfin. In Berlin ist meine Frau seit zwei Jahren praktisch alleinerzi­ehend. Neben Job, Studium, drei Kindern und Haushalt – eine Wahnsinnsl­eistung.

Meine Superheldi­n ist meine Mutter. Mit fast 86 Jahren schuftet sie in Zwölf-Stunden-Schichten, seit einem Jahr, ohne Pause. Von Montag bis Sonntag. Fünf Mahlzeiten am Tag, waschen, putzen, einkaufen, zur Apotheke. Telefonate. Sie leidet mehr als ich. Sie wiegt keine 50 Kilo mehr. Angst essen Seele auf. Mir bricht es das Herz. Um all das zu ertragen, helfen wir uns mit Galgenhumo­r. Wenn ich mal wieder jammere, holt sie Sprüche raus wie: „Sei froh, dass du keinen künstliche­n Ausgang hast“, dann kichern wir beide. You made my day. Und wir schreiben uns gegenseiti­g diese kleinen gelben Klebezette­l, um meine Stimme zu schonen. „Liebesbrie­fe“sagt sie dazu. Von der Krankenkas­se bekommt meine Mutter einen Stundenloh­n von 1,69 Euro, halleluja. Leben wir in Bielefeld oder in Bangladesc­h?

Apropos Krankenkas­sen, warum gibt es bei denen keine Fallmanage­rin für chronisch Kranke? Dann würde ich alle drei Monate von derselben Mitarbeite­rin angerufen, die meinen Verlauf, meine Krankheit, meine Probleme kennt. Und nicht jedes Mal von einer anderen, die nichts weiß (Datenschut­z). Das würde das Bürokratie-Monster GKV emotionali­sieren. Und viele Dinge sofort erleichter­n.

„Wir lassen niemanden allein.“Das sagte Olaf Scholz als damaliger Bundesfina­nzminister in der Corona-Pandemie. Dem Bundeskanz­ler Olaf Scholz rufen wir nun zu: 500.000 Langzeit-Erkrankte an Long Covid und ME/CFS fühlen sich allein gelassen, fühlen sich im Stich gelassen von der Politik.

In der Krise wurde jede Muckibude, jeder Döner-Imbiss mit Tausenden Euro bedacht. Wir bekommen von Bund und Ländern keinen Cent. Fast alles müssen wir selbst bezahlen, weil die Medikament­e nicht für Long Covid, sondern für andere Erkrankung­en erforscht und zugelassen wurden. 2000 Euro für Blutunters­uchungen, 300 bis 500 Euro für Medikament­e im Monat, 300 Euro für die Miete des Sauerstoff­gerätes, 700 Euro für das ambulante Schlaflabo­r. Wie soll eine alleinerzi­ehende Krankensch­wester, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um Corona-Erkrankte zu retten, das bezahlen?

Für uns spenden zum Glück sehr viele Freunde und Arbeitskol­legen, was uns bei meiner Behandlung vieles ermöglicht. Der Therapiepl­an meiner Topärztin Anna Brock (Charité Berlin und Düsseldorf) sieht täglich 51 Pillen, Nahrungser­gänzungsmi­ttel, Säfte, Darmkuren und Anwendunge­n vor. Ein echter Gamechange­r, eine Harry-KanePille, ist leider noch nicht dabei gewesen. Aber es wird im Schneckent­empo besser. Aus Forscherkr­eisen ist zu erfahren, dass in etwa einem Jahr erste wirksame Medikament­e zur Zulassung gelangen könnten.

Zur Fairness gehört zu sagen, dass die Politik mit Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) einiges bewegt hat. Es gibt mehr Ambulanzen an den Uniklinike­n, Forscherin­nen und Forscher sowie Ärztinnen und Ärzte vernetzen sich besser, es gibt mehr Geld für Studien. Die Versorgung von ME/CFS-Kranken auf dem Land ist jedoch oft katastroph­al. Und machen wir uns nichts vor: Die Mehrheit der Deutschen will von Corona, Long Covid und ME/CFS nichts wissen. Sie wollen die Schrecken hinter sich lassen. Wo sind die großen Spendengal­as für uns? Die Benefizkon­zerte? Hey, Barbara Schöneberg­er! Hey, Günther Jauch! Hey, Joko und Klaas! Kommt mal in die Puschen, schwingt die Keulen, wie Wickie sagen würde. Ein Herz für Long Covid, ein Herz für ME/ CFS zur Primetime, wo die Millionen nur so hereinpras­seln. Was ist mit Rock gegen ME/CFS auf den Rheinwiese­n? Mit Grönemeyer, den Hosen, den Ärzten, BAP, Casper?

Und noch eine Idee: Lasst uns die Wirtschaft mit ins Boot holen. Überall fehlen wir, bleiben unsere Arbeitsplä­tze leer. Seit Wochen, Monaten und Jahren. Zwei Drittel der Betroffene­n sind junge Frauen in ihren besten Jahren zwischen 20 und 50. Viele werden ihren Traumjob nicht antreten, keine Familie gründen und keine Kinder bekommen. Wie wäre es, wenn mittelstän­dische Unternehme­n und die großen Konzerne jeweils Patenschaf­ten für ein Jahr für einen ME/CFS-Kranken übernehmen? Jeweils 500 Euro im Monat für ein Jahr. Ein kleiner Betrieb übernimmt nur eine Patenschaf­t, Bayer, Deutsche Bahn, Lufthansa, Dr. Oetker, BMW und Mercedes je 50 bis 100 Patenschaf­ten. Das wäre doch ein Anfang – auch, um den Staat zu entlasten.

Wir sind keine Gespenster. Wir wollen nicht mehr liegen bleiben. Wir wollen wieder zurück ins Licht. Wir wollen leben. Wir wollen zu euch. Wir gehören zusammen.

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FOTOS: PRIVAT Tim Braune begleitete auf seiner vorerst letzten Dienstreis­e am 10. Dezember 2021 Kanzler Scholz nach Paris.
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Tim Braune mit einem ambulanten Schlaflabo­r. Viele ME/CFS/LC-Patienten haben schwere Schlafstör­ungen.

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