Gestorben für Europa
Savita Wagner aus Bonn brachte sich als Sanitäterin in der Ukraine freiwillig in Gefahr. nd Sie verlor ihr Leben, als sie verletzte Kameraden aus einem Gefecht retten wollte.
Die letzten Monate im Leben von Savita Diana Wagner sind ein Schwindel. Sie ist keine Helferin, die humanitäre Güter in der Ukraine transportiert, wie sie es ihrer Mutter in Bonn erzählt. „Snake“, diesen Kampfnamen geben ihr die Kameraden, ist ein „Combat Medic“. Eine Sanitäterin, die direkt in die Gefechte zieht, um Verwundete zu versorgen. Wie viele Leben sie gerettet hat? „Wir wissen es nicht. Es müssen unzählige sein“, sagt ein ukrainischer Offizier bei ihrer Beerdigung. Am 31. Januar stirbt Savita Diana Wagner im Alter von 36 Jahren durch den Splitter einer Granate, der sie an der Halsschlagader trifft, während sie unter Beschuss Verletzte behandelt.
Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits so etwas wie eine Frontheldin. Sie ist die Deutsche, die auszog, um die Ukraine und Europa zu verteidigen. In totaler Dunkelheit verbindet sie schwerste Kriegswunden, während Granaten explodieren. Zerrt die Soldaten aus dem Gefecht, hievt sie mit anderen auf Geländewagen, um sie abzutransportieren. Ein paar Mal entgeht sie dabei selbst nur knapp dem Tod. Kugeln verfehlen sie oder ein Schrapnell prallt gegen ihr Magazin. Dennoch macht sie weiter.
Sie wächst in Bonn bei ihrer Mutter Ursula Wagner auf. Als Savita ein Jahr alt ist, trennen sich ihre Eltern. „Sie war ein Sommer-, Sonnen-, Sonntagskind“, erzählt Ursula Wagner. Auch, wenn die Zeiten nicht immer leicht waren. Vielleicht stand sie deshalb oft für Schwächere ein und konnte Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen. Vielleicht waren es auch die christlichen Werte, die ihren Charakter mitformten. Auf der erzbischöflichen Liebfrauenschule ist sie jedenfalls ein Lehrerliebling – im besten Sinne. Mit einem Abi-Notenschnitt von 1,3 steht ihr die Welt offen. „Sie wollte immer Tiermedizin studieren“, sagt Ursula Wagner.
Ein Praktikum im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz ändert alles. Dort wird sie ins kalte Wasser geworfen und sofort mit Schwerverletzten konfrontiert. Von da an möchte sie Ärztin werden. „Aber bloß nicht in Bonn, sie wollte raus“, sagt Ursula Wagner. So wird Halle an der Saale Anfang der 2000er-Jahre ihre neue Heimat. Es ist der Beginn einer langen Reise, bei der sie oft umzieht. Sie studiert erst Medizin. Mit guten Noten, aber nicht erfüllend. Sie probiert es mit Jura und zieht zeitweise nach Hamburg. Letztlich versucht sie es mit Mathe. Zahlen waren immer ihre Leidenschaft.
Da ist sie schon mit ihrem Freund Karl Stenerud zusammen. Der Kanadier zieht für sie nach Deutschland. „Als Softwareentwickler kann ich überall arbeiten“, erzählt er über die Zeit damals. Die beiden lernen sich 2016 über das Onlinespiel „Left4Dead“kennen, bei dem Zombies getötet werden müssen. „Da ist es wichtig, Leute in deinem Team zu haben, die gut sind.“Und Savita ist verdammt gut. Sie verbringen Stunden mit Spielen, Chatten, Videoanrufen. Der „Weirdo“, so ist ihr Spitzname im Netz, hat es ihm angetan. Sie ist verrückt und schräg – im besten Sinne. Als Stenerud auf der Reise nach Norwegen durch Deutschland fährt, treffen sich die beiden in Köln. „Es war total chaotisch, nichts funktionierte. Ihre Züge fielen aus, ihr Handy ging kaputt. Ich dachte, sie kommt nicht mehr. Und dann stand sie doch da.“Wenn Savita sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hält sie nichts auf. Die Gamer werden ein Paar, heiraten 2018 in Kanada und kehren wieder nach Deutschland zurück. „Sie, die Mathematikerin, ich, der Softwareentwickler. Wir hätten eine Firma für künstliche Intelligenz gründen können“, sagt Stenerud. Doch im Februar 2022 überfällt Putin die Ukraine.
Was bringt einen jungen Menschen dazu, in den Krieg zu ziehen? In ein Land, das sie nur aus den Nachrichten kennt? „Savita war nie ein politischer Mensch und auch kein Kriegstyp. Es war eine spontane Entscheidung, in die Ukraine zu gehen“, sagt Ursula Wagner. Sie ist zu diesem Zeitpunkt, genauso wie Karl Stenerud, nicht davon angetan. Sie haben Angst. Savita weiß das und spielt die Gefahr herunter, ist aber auch kompromisslos. „Hätte ich ihr das verbieten sollen? Sie wollte zuerst auch nicht an die Front gehen“, erzählt Stenerud. Stattdessen leistet sie humanitäre Hilfe. Ab März 2022 fährt sie dringend benötigte Medikamente und medizinische Güter von Lwiw (Lemberg) nach Kiew und Geflüchtete aus den Kriegsgebieten zurück. Das ist das, was Savita bis zuletzt ihrer Mutter erzählt. Sie hält regelmäßig Kontakt zu ihr, sofern die russischen Störmanöver das zulassen. Sie schickt Videos, in denen sie durch eine Arztpraxis führt und zeigt, womit sie dort arbeitet.
Ursula Wagner besucht sie auch in Kiew. Karl Stenerud fährt ebenfalls in die Ukraine und bringt ihr einen alten Geländewagen, den er in Polen kauft. Er unterstützt sie, wo es nur geht. Ihm vertraut sie ihre Pläne an. Berichtet, welche Gräuel sie sieht. Savita ist als eine der Ersten in Butscha, das die Ukrainer von den russischen Besatzern befreien. Sie sieht die Leichen der erschossenen, gefolterten und erschlagenen Zivilisten, der Opfer des Massakers. „Sie erzählte, dass die Russen Minen auf Spielplätzen versteckt hatten“, sagt Stenerud. Savita führt anschließend ausländische Journalisten durch das Gebiet. Die Bilder davon gehen um die Welt. Und für sie wird klar, dass es nicht reicht, in der zweiten Reihe zu stehen. Sie ist wütend. „Zum Teufel damit, die Symptome zu behandeln, lasst uns die Ursache beseitigen“, soll sie damals gesagt haben. Ihre Großeltern mussten vor den Russen im Zweiten Weltkrieg flüchten, von den Verbrechen an den Zivilisten erzählten sie auch ihr. „Das, was hier passiert, ist noch schlimmer“, zitiert Ursula Wagner ihre Tochter.
Savita spricht kein Ukrainisch, hat aber Erfahrung aus dem Medizinstudium. Das reicht für die Front, an der verlustreiche Kämpfe toben und Sanitäter dringend gebraucht werden. Einer der Freunde, den sie in der Ukraine kennengelernt hat, bildet solche Sanitäter aus und vermittelt den Kontakt zum Militär. Nach zwei Monaten Grundausbildung geht sie im Juni 2022 an die Nordost-Front. Dort liegt sie erst in Schützengräben bei Isjum, bevor ihre Vorgesetzten in den Wirren des Krieges erfahren, dass sie eigentlich Sanitäterin ist.
Kein fließendes Wasser, keine Toilette, zu wenig Munition, der Stützpunkt in Reichweite russischer Artillerie. Aber Savita und ihre Kameraden weichen nicht. Ihr Bataillon „Karpatska Sitsch“ist eine Freiwilligeneinheit, wird aber später in die reguläre Armee eingebunden. Es gibt viele andere Ausländer, meist wird Englisch gesprochen. Sie macht sich einen Namen. „Snake“wird sie genannt, weil sie als Sanitäterin den Äskulapstab auf dem Arm trägt.
„Sie war ein Sommer-, Sonnen-, Sonntagskind“Ursula Wagner Mutter
„Was sie erlebt hat, hat sie nicht kalt gelassen“Karl Stenerud Ehemann
Auf den Fotos und in den Videos, die Savita ihrem Mann schickt, ist ihr die Erschöpfung anzusehen. Ihre blonden Haare sind kraus und ungewaschen, ihre hellen Wangen sind voller Dreck. Ihr Gesicht sieht schmal aus. Ihr Blick ist leer. „Was sie erlebt hat, hat sie nicht kalt gelassen“, sagt Stenerud. In den Reihen ihrer Kameraden findet sie Freunde fürs Leben. Doch ihre Freunde sterben. Das zermürbt sie. „Wir haben darüber gesprochen, dass sie dort raus muss. Aber sie wollte endlich etwas zu Ende bringen. Drei Jahre wollte sie in der Ukraine bleiben und keinen Tag länger.“
Es ist der 31. Januar, als Savita durch Artillerie-Beschuss nahe Swatowe in der Ostukraine getötet wird. Sie versucht, wie so oft, verwundete Soldaten in Sicherheit zu bringen. Ihre Kameraden erzählen, dass sie Dutzende Verletzte gerettet hat. Am 14. Februar, Valentinstag, wird sie in Kiew mit militärischen Ehren beigesetzt. Nicht irgendwo, sondern in der „Allee des Ruhmes“am Soldatenfriedhof. „Wir kommen in diese Welt mit leeren Händen, und wir verlassen diese Welt auch wieder mit leeren Händen. Doch die goldenen Hände von Savita Wagner haben sehr viel für uns und unser ganzes Land getan“, sagt der Militärpfarrer in der Predigt.
Ursula Wagner und Karl Stenerud sind dabei. Sie bekommen Savitas Orden und eine blaue Samtschatulle überreicht, in der säuberlich gefaltet eine deutsche und eine ukrainische Flagge liegen. Sie ist „Snake“, die Heldin – wie es seit Monaten auf ihrem olivgrünen Geländewagen steht. Dass Savita in der Ukraine beerdigt wird, da sind sich beide einig. Auch jetzt noch, wo sie sich am Wohnzimmertisch in Bonn gegenübersitzen. Gerade sind die letzten Kirschblüten von den Bäumen in der Altstadt gefallen, die von der Wohnung aus zu sehen sind. „Sie hat sich für ihre Kameraden eingesetzt. Dafür hat sie ihr Leben gelassen“, sagt Ursula Wagner.
Karl Stenerud und Savita wollten nach dem Krieg abwechselnd in Deutschland und in der Ukraine leben. Sie waren sich sicher, dass Russland scheitern würde. Stattdessen planen nun Savitas Mutter und er, einmal im Jahr ihr Grab zu besuchen. Und mit ihren Mitteln dafür zu kämpfen, dass die Ukraine ein freies Land bleibt. „Sie kämpfte für die Freiheit Europas, nicht nur für die der Ukraine. Dafür ist sie gestorben. Wenn Putin nicht gestoppt wird, wird er immer weiter machen, und andere könnten ihm folgen. Das ist eine Gefahr für unser gesamtes Weltgefüge“, sagt Karl Stenerud. Er will nun ein Buch schreiben.
Ursula Wagner hat einen Brief an hochrangige deutsche Politiker und Mitglieder der Bundesregierung verfasst, in dem sie Munitionsund Waffenlieferungen an die Ukraine fordert – nur CDU-Chef Merz und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), haben ihr geantwortet. Sie schließt mit den Worten: „Putin ist ein Schlächter und Mörder, der keinen Frieden will, sondern eine Unterjochung der Ukraine zum Ziel hat. Wäre Putin erfolgreich, würde dies die Unterwerfung Europas bedeuten.“
Das war für Savita keine Option.