Zwischen Brauchtum und Broadway
Gelungene Premiere in der Düsseldorfer Oper: Das Musical „Anatevka“um ein jüdisches Dorf versinkt nicht in Folklore, der Spagat zwischen Tradition und Moderne gelingt. Musiker und Darsteller glänzten, das Publikum jubelte. nd
So ein kleines Pogrom müsse manchmal eben sein, sagt der russische Wachtmeister kurz vor Ende des ersten Akts. Er führe ja nur Befehle aus, bedauere die Anordnung sogar, weshalb er Tevje, den Milchmann, auch vorab warne. Kurz darauf tauchen er und seine Schergen auf einer Hochzeitsfeier auf und lassen ihrer Zerstörungswut freien Lauf.
Willkommen in Anatevka, dem ostjüdischen Schtetl, das durch das gleichnamige Musical von Jerry Bock 1964 zum Broadway-Hit und von dort zum Welterfolg wurde. Jetzt legt die Deutsche Oper am Rhein das Stück neu auf, in der Regie von Felix Seiler, der nach Stationen an der Staatsoper Hannover und mehreren Spielzeiten an der Komischen Oper Berlin sein Debüt in Düsseldorf gibt. Der 41-Jährige steckt das Musical in ein nachgerade klassisches Gewand. Statt ein Dorf aus Pappmaché-Häusern nachbilden zu lassen und in Folklore zu baden schafft er urbane Strukturen, indem er weiße Laken unterschiedlicher Größe an Wäscheleinen aufhängen und hochziehen lässt. Das betont den improvisierten, vorübergehenden Charakter der Siedlung.
Dem Spiel um Tevje, der seine liebe Mühe hat, fünf Töchter zu verheiraten, gibt es zudem eine puristische Note. Vor dem Weiß und Schwarz der Bühne (Nikolaus Webern) wirken die dezent auf das Jahr 1905 zugeschnittenen Kostüme von Sarah Rolke besonders ausdrucksstark. Die leuchtend blauen Kleider von Tevjes fünf Töchtern, die Gebetsschals der Männer, die verschiedenen Kopfbedeckungen vom Kopftuch bis zur Kippa, vom Hut bis zur Fellmütze stehen für starke Traditionen und klare Rollenverteilungen.
Wie die äußere Welt in den Mikrokosmos des Dorfes einbricht, wie die Sorgen und Freuden kleiner Leute vom Weltgeschehen erfasst und zerdrückt werden, zeigt Seiler mit sicherer Hand, ohne Drang zum
Risiko. Aktuelle Parallelen stellen sich wie von selbst ein, zum Beispiel durch Perchik, dem Studenten aus Kiew, und durch die Heiratsvermittlerin Jente, die ihre Hoffnungen auf die Emigration nach Jerusalem setzt.
Dem Originaltitel entsprechend („Fiddler on the roof“), lässt Seiler eine Geigerin der Düsseldorfer Symphoniker durch die Szene schweben. Ansonsten vertraut er auf die Stärke des Stücks, lässt den Tänzern, dem Chor der Rheinoper, der Statisterie und der Solistenriege Raum zur Entfaltung. Den nutzen alle Beteiligten dankbar. Menschlich anrührend ist hier vieles: Der Bilderbogen reicht von religiösen Zeremonien über familiäre Querelen und Dorfstreitigkeiten bis hin zur Hochzeitsfeier,
bei der die Stimmung überschäumt. Diese Funken zünden, das Publikum jubelt mit.
Das liegt natürlich auch am Klang aus dem Orchestergraben. Die Düsseldorfer Symphoniker verstehen sich unter der Leitung von Harry Ogg auf schmissigen BroadwaySound, aber auch auf die feurigen und melancholischen Anklänge der Klezmer genannten Volksmusik. Schmachtend jault die Solo-Klarinette auf, beginnt durch die Technik des Überblasens ausdrucksstark zu röhren. Aber so mächtig das Orchester die Tanzszenen unter Dampf setzt, so dezent hält es sich zurück, wenn es nur darum geht, der Szene Stimmung zu geben.
Vom höchst engagierten Ensemble und dem bestens aufgelegten Chor der Rheinoper (Einstudierung: Patrick Francis Chestnut) kann hier nur in Ausschnitten die Rede sein. Andreas Bittl ist ein heftig blinzelnder, anrührend schlitzohriger Tevje, der den berühmten Song „Wenn ich
einmal reich wär“singt, als riebe er sich dabei die Hände. Unmöglich, ihm das Mitfühlen zu verweigern, wenn er sich zwischen Tradition und Moderne immer stärker zerrissen fühlt. Susan Maclean (Golde) trumpft an seiner Seite als resolute Ehefrau auf, zeigt sich hinter dem zupackenden Äußeren aber auch verletzbar.
Alle formen ihre Charaktere so einfühlsam aus, dass man die ganze Bagage einfach lieb gewinnt: den armen Schneider Mottel (Roman Hoza), die eigensinnigen Töchter (Anna Sophia Theil, Kimberley Boettger-Soller, Mara Guseynova), die umtriebige Hochzeitsvermittlerin Jente (Morenike Fadayomi), den Studenten Perchik (Florian Simson). Dass Anatevka heute kein rein fiktives Dorf mehr ist, sondern 2014 unweit von Kiew gegründet wurde, um Juden vor dem Krieg im Osten der Ukraine Zuflucht zu gewähren, ist in der Erfolgsgeschichte dieses Abends die bittere Pointe.