Demonstrationen ebben kurz vor Turnierbeginn ab
Anders als beim Confed-Cup im vergangenen Jahr erreichen die Proteste nicht die breite Masse der Bevölkerung.
RIO DE JANEIRO Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff eilt in diesen Tagen von Eröffnung zu Eröffnung: Mal ist es ein halbfertiges Terminal an einem der vielen nicht pünktlich zur Weltmeisterschaft fertig gewordenen Flughafenausbauten, dann ist es das neue Nahverkehrssystem in Rio de Janeiro. Der „Transcarioca“soll die Stimmung im Land kippen. Die blauen Busse dieses Transportsystems vom Internationalen Flughafen sollen die Passagiere bis weit in die Stadt hineinbringen und damit das tägliche Verkehrschaos in der Gastgeberstadt des WM-Finales und der Olympischen Spiele 2016 lindern helfen. Seit Rousseff vor ein paar Tagen die ersten Teilstrecken des Prestigeprojektes freigab, stürzen sich die brasilianischen Reporter auf die ersten glücklichen Passagiere. Endlich einmal gute Nachrichten. Lange musste Brasilien auf solche Bilder warten. Tatsächlich ändert sich die Atmosphäre, was auch an der Wucht der Eindrücke liegt: Täglich treffen die Mannschaften mit ihren Stars ein. Jetzt, wo die WM zum Greifen nah ist, überwiegt dann doch die Freude am Fußball.
Die Stimmung vor der Weltmeisterschaft wird wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel endlich freundlicher. Die Proteste sind zwar intensiv, aber haben im Vergleich zum Confed-Cup ein Jahr zuvor nicht die breite Masse der Brasilianer erreicht. Einer Umfrage der Tageszeitung „Oglobo“zu Folge wollen sich 90 Prozent der Einwohner Rio de Janeiros nicht an möglichen Demonstrationen gegen die WM beteiligen. Vor allem die Mittelschicht hat sich von den Protesten zurückgezogen. Dagegen kündigen Aktivisten wie die der Hackergruppe „Anonymus“gezielte Störaktionen unter anderem gegen die Sponsoren der WM an. Auch in den Favelas haben sich soziale Bewegungen zusammengeschlossen. Es fehlt allerdings an überregionalen Führungsfiguren und einer koordinierten Zusammenarbeit. So bleibt vieles Stückwerk. Mal sind es die Lehrer, dann die Polizisten oder die Busfahrer. Es gibt Gruppen von Favela-Besuchern, dann sind es radikalisierte Studenten, die der Fifa den Kampf angesagt haben. Wie schnell das alles eskalieren kann, zeigte eine Szene in dieser Woche. Wütende Arbeiter haben in Sao Paulo an der MetroStation in der Nähe des WM-Stadions für Tumulte gesorgt. „Wir wollen arbeiten, wir wollen arbeiten“, riefen die Demonstranten.
Ihre Gesichter hatten die Randalierer in den dicken Kapuzenmützen ihre Jacken versteckt, deswegen ist es nicht klar, ob es sich bei den Aktionen der Demonstranten um spontane Gewaltausbrüche handelt, oder ob diese „bestellte“Störenfriede sind, die die Streiks der Metromitarbeiter in Misskredit bringen wollen, wie soziale Bewegungen zuletzt andeuteten. Gewerkschaften und soziale Bewegungen befürchten eine Kriminalisie- rung der Demonstrationen. Streiks sind eines der Bedrohungsszenarien, die bei den WM-Organisatoren ganz oben auf der Liste der Probleme stehen. Ausstände der Polizei sorgten zuletzt im deutschen Spielort Salvador für Plünderungen. Die Sicherheitskräfte stehen in diesen Tagen besonders unter Stress: Internationale Medienvertreter schauen nach Berichten über Polizeigewalt genau hin. Bei Demonstrationen werden die Polizisten deswegen immer wieder das Ziel von Provokationen. Sie müssen die Versäumnisse der Politik ausbaden.
Brasilien ist mit seinen Bauprojekten nicht pünktlich fertig geworden. Die Stadien in Natal, Curitiba oder Sao Paulo gleichen auch wenige Tage vor dem ersten Anstoß immer noch hektischen Baustellen. Mal fehlen ganze Dachkonstruktionen, dann sind es die Sitzplätze. Die Arena Corinthians wird das Eröffnungsspiel erleben, ohne dass das Stadion einmal in Volllast getestet wurde. Offenbar gibt es nicht ein- mal alle geplanten Sitzplätze. Viele Infrastrukturmaßnahmen, die im Zusammenhang mit der WM angekündigt wurden, fielen dem Rotstift zum Opfer. Fans in sechs WM-Stadien werden keinen Zugriff auf das Wifi-Netz haben.
„Das ist unsere Weltmeisterschaft. Die Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften“hämmern unterdessen die offiziellen Werbespots der Regierung von den brasilianischen Bildschirmen gute Stimmung in die Wohnzimmer.
Viele Straßenzüge verwandeln sich in grün-gelbe Fahnenmeere, die Geschäfte haben sich mit Flaggen und Fähnchen eingedeckt. Flachbildschirme sind der Verkaufsschlager. Ob die WM zu einer gigantischen Party wird oder ob sie im Stimmungstief endet, hängt ohnehin nicht an halbfertigen Flughäfen oder fehlenden Stadiondächern. Entscheidend wird sein, ob Gastgeber Brasilien eine starke WM spielt und sich wie erwartet den sechsten Weltmeistertitel sichert.