Rheinische Post Ratingen

Das große Los

-

Gsoltera,

estar

rob gesagt wird verwendet, wenn es gilt, etwas Unabänderl­iches zu beschreibe­n, für einen vorübergeh­enden Zustand. Ich finde das eine philosophi­sch bezaubernd­e Vorstellun­g, schon per Wortwahl klarmachen zu können, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie sind, sondern halt nur zurzeit. Verliert man ja oft aus den Augen, dass es morgen schon wieder ganz anders sein kann.

Fasziniere­nde Fußnote: Das Wort für Single, beziehungs­weise

wird von Männern fast immer zusammen mit verwendet, von Frauen mit Ich bin gerade Single (= aber habe nicht vor, das zu bleiben). Sagen die Frauen. Wie gesagt, ganz anders die Männer: (= macht auch nix, wenn für immer).

Was mich betrifft: und mache täglich drei Kreuze. Stell Dir vor, ich hätte jetzt einen Kerl am Hals! Der zuhause sitzt und sich mopst oder, schlimmer noch, mitreisen wollte. Nie hätte ich, da bin ich sicher, die Schnapside­e zu diesem Jahr gehabt, wenn ich noch in einer Beziehung wäre. So eine Reise funktionie­rt nur solo, dieses Jahr soll ganz mir gehören. Zwar freue ich mich darauf, den einen oder anderen von Euch im Lauf der nächsten Monate zu sehen, aber die Idee dieses Unternehme­ns ist nun mal, ohne Absprachen, ohne Kompromiss­e machen zu können, wonach mir gerade ist.

Den Spanischku­rs zum Beispiel habe ich erst vor zwei Wochen spontan von Sydney aus gebucht. Jeden Morgen packe ich nun um halb neun meinen Ranzen, mache mich auf den Schulweg die Avenida Callao hinunter nach Recoleta und

soltero

ser estar. Estoy soltera:

Soy soltero

ser

Soy soltera

sitze vier Stunden lang mit Florian, einem Schweizer Volkswirt, und dem ehemaligen Alitalia-Piloten Pirro aus Rom in einem kleinen Klassenzim­mer. Unser Lehrer Juan Manuel spricht ausschließ­lich spanisch mit uns. Und das Irre ist: Wir verstehen fast alles. Übrigens sehr erhellend, nach Jahrzehnte­n zum ersten Mal wieder auf der Schulbank zu hocken und sich sofort bei den alten Reflexen zu ertappen: in meinem Fall immer noch leichte Tendenzen zu peinlichem „Herr Lehrer, ich weiß was“-Strebertum. Das ich jetzt allerdings besser tarne.

Aber es ist schon merkwürdig: In diesem Jahr der absoluten Freiheit könnte ich morgens noch bettwarm die erste Champagner­flasche köpfen oder mich jeden Tag ins Nirwana massieren lassen oder acht Stunden am Tag Schuhe anprobiere­n. Theoretisc­h. Und was mache ich? Ich gehe jeden Morgen in die Schule. Und am Nachmittag arbeite ich. Bin ich denn völlig bescheuert? Habe ich einfach zu wenig Phantasie für die Freiheit?

Mir fällt zu diesem Thema gerade die „Projekt Neustart“-Reportage ein, die ich vor zwei Jahren schrieb, nachdem das Magazin eingestell­t und mir damit schon zum vierten Mal mein Arbeitspla­tz unter dem Hintern weggeschos­sen worden war. Ich hatte damals ernsthaft überlegt, ob ich nicht auf eine andere Branche umsatteln sollte. Es macht auf Dauer einfach keinen Spaß, wenn du deinen Job zwar innig liebst, aber von ihm einfach nicht zurückgeli­ebt wirst.

In der Reportage habe ich verschiede­ne Methoden getestet, mit denen man herausfind­en soll, welche möglicherw­eise ungenutzte­n Talente in einem stecken. Vielleicht bin ich ja nur aus Zufall und dum-

Aus Spaß.

Aus Spaß.

Park Avenue

mer Gewohnheit Journalist, vielleicht hätte ich das Potential zu einer begnadeten Landschaft­sgärtnerin oder Arbeitsrec­htlerin oder Käsemacher­in, woher soll man das wissen, wenn man es nie probiert hat? Als Kind wollte ich erst Ornitholog­in, dann Lateinlehr­erin und dann Innenarchi­tektin werden – wie sähe mein Leben aus, wenn ich eins davon tatsächlic­h geworden wäre? Erfüllt? Langweilig? Was für ein Mensch wäre aus mir geworden?

Aber ich schweife ab. Was ich eigentlich erzählen wollte, weil es mir hier wieder in den Sinn gekommen ist: die Paradies-Übung. Die war Teil einer Session, die eine Psychologi­n auf Basis von Barbara Shers Buch „Wishcraft“mit mir für den Artikel gemacht hat. „Was würden Sie tun, wenn alles, wirklich absolut alles möglich wäre, ohne Rücksicht auf Zeit, Raum, Geld oder Logik? Wie würden Sie leben? Was würden Sie den ganzen Tag tun?“

Ich musste ihr in allen Einzelheit­en meinen perfekten paradiesis­chen Tag ausmalen. Mach das mal, das bringt unglaublic­h viel Spaß! Meiner ging, stark verkürzt, so: Aufwachen neben George Clooney oder besser noch Alan Rickman in einem Haus am Meer bei 23 Grad Lufttemper­atur und leichtem Ostwind, mit circa fünf Kilo und 15 Jahren weniger auf den Rippen. Auf der Terrasse ist schon eingedeckt. Ich esse vollreife Mangostan und Ananas, während mir Christian Brückner live am Frühstücks­tisch Raymond Chandler vorliest. Strandspaz­iergang mit einem aufs Wort gehorchend­en Saluki. Mittags mit zehn Freunden aus allen möglichen Bereichen an einem langen Tisch unterm Sonnenschi­rm hinter dem Haus sitzen, unvernünft­ig viel Riesling zum gegrillten Fisch trinken und sensatione­lle Projekte austüfteln. Mein Vorschlag, ein transporta­bles Haus zu bauen, dessen Wände sich anstrengun­gslos verschiebe­n lassen und auf Knopfdruck von Stein in Glas verwandeln, stößt auf allgemeine Begeisteru­ng. Nachmittag­s sitze ich an meinem Schreibtis­ch, einem Prototyp von Maarten van Severen (okay, ich habe mich ein bisschen in die Details reingestei­gert . . .), und schreibe anstrengun­gslos in zwei Stunden ein halbes Buch. Abends fliege ich nach New York zur Premiere meines neuen Films (George hat eine kleine Nebenrolle), bei dem ich nicht nur das Drehbuch geschriebe­n, sondern auch erstmals Regie geführt habe.

„Sehr nett“, sagte die Psychologi­n. „Und wie sieht der Tag danach aus?“

Und wie, fragte sie weiter, die ganze Woche, der Monat, das Jahr? Das Spannende war: Je länger der Zeitraum wurde, desto realistisc­her wurden meine Spinnereie­n. Immer noch weit genug entfernt von meinem Leben, aber gleichzeit­ig auch eine Essenz treffend von dem, was ich liebe: Freiheit, das gemeinsame Nachdenken mit anderen, das Neue, das Querverbin­den. An einem gewissen Punkt habe ich gesagt: Ich will eigentlich gar nichts Bestimmtes, vergessen Sie Clooney und Rickman. Aber ich will, dass mir was passiert. Ich will, dass mich das Leben überrascht.

„Dafür können Sie was tun“, sagte die Psychologi­n. Und das ist wahr. Dieses Jahr ist eine einzige lange Paradies-Übung, ich kann mir lauter perfekte Tage basteln. Aber passieren wird mir nur etwas, wenn ich dafür sorge und mich darauf einlasse. (Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany