Rheinische Post Ratingen

Cameron siegt, Europa sorgt sich

Die britischen Konservati­ven können wieder allein regieren. Nun werden die Briten über ihren Verbleib in der EU abstimmen. Das bedeutet Jahre der Ungewisshe­it. In Berlin überwiegt die Skepsis.

- VON GREGOR MAYNTZ UND CHRISTOPHE­R ZIEDLER

LONDON/BERLIN Der überrasche­nde Triumph der Konservati­ven bei der britischen Unterhausw­ahl stürzt die EU in Turbulenze­n. Weil Premiermin­ister David Cameron vor der Wahl ein Referendum über den britischen Verbleib in der EU versproche­n hat, rechnet man nun in Brüssel mit Forderunge­n aus London, die EU-Verträge neu zu verhandeln, um Zugeständn­isse zu erreichen. Ein Sprecher von EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker sagte, man werde „jeden Vorschlag und jede Forderung höflich, freundlich und objektiv prüfen“. Juncker selbst hatte einen „fairen Deal“zugesagt.

Camerons Tories hatten bei der Wahl am Donnerstag eine Mehrheit der Sitze im Unterhaus erzielt. Sie eroberten 331 der 650 Wahlkreise. Der bisherige Koalitions­partner, die Liberaldem­okraten, verlor mehr als vier Fünftel seiner bisherigen Sitze.

Überrasche­nd schwach schnitt die Labour Party ab – sie erlitt vor allem in Schottland dramatisch­e Verluste. Dort gingen 56 der 59 Wahlkreise an die Schottisch­e National- partei, die sich für eine Unabhängig­keit des Landesteil­s einsetzt. Labour-Chef Ed Miliband erklärte umgehend seinen Rücktritt. Die EUkritisch­e „United Kingdom Independen­ce Party“(Ukip) errang lediglich einen Sitz; unter anderem scheiterte Parteichef Nigel Farage in seinem Wahlkreis in Südost-England. Auch er trat zurück.

Auf der Insel wird nun spätestens 2017 abgestimmt, ob das Land in der EU bleibt. Überrasche­nd deutlich wurde angesichts dieser Perspektiv­e auf dem Kontinent bereits gestern die Möglichkei­t einer umfassende­n EU-Reform genannt. Der CSU-Politiker Manfred Weber, der im Europaparl­ament die Christdemo­kraten anführt, sagte: „Wir Europäer müssen darüber nachdenken, ob es Zeit für eine größere Vertragsän­derung ist.“Europäisch­e Grundfreih­eiten seien aber nicht verhandelb­ar. Junckers Sprecher griff das auf: Die Mitgliedst­aaten müssten über den „nächsten großen verfassung­srechtlich­en Schritt“entscheide­n. EURatschef Donald Tusk teilte mit, er werde Cameron unterstütz­en, die Briten mit einer EU-Reform vom Verbleib zu überzeugen.

Obwohl auch Deutschlan­d Interesse an einer Vertragsän­derung hat – etwa um die Währungsun­ion stabiler aufzustell­en –, waren die Reaktionen aus Berlin zurückhalt­end. Unions-Außenpolit­iker Philipp Mißfelder äußerte die Hoffnung, die neue Regierung werde verantwort­ungsbewuss­t handeln. „Ein Austritt schadet allen, am meisten Großbritan­nien selbst“, warnte er. SPD-Außenpolit­iker Niels Annen sagte dagegen voraus, die Mehrheit der Kon- servativen werde das Gewicht der Europa-Skeptiker in der Partei eher noch erhöhen. „Für die Zukunft Großbritan­niens in der EU verheißt dieses Ergebnis wenig Gutes“, sagte Annen. Zugleich stehe fest: „Wir wollen Großbritan­nien in der EU halten. Weitere Sonderraba­tte für die Tories wird es aber nicht geben.“

Deutliche Warnungen vor einem britischen EU-Austritt kamen von der deutschen Wirtschaft. Der EU würde dann „der wichtigste Advokat für freien und fairen Wettbewerb sowie für Freihandel wegbrechen“, sagte der Vize-Hauptgesch­äftsführer des Industrie- und Handelskam­mertags, Volker Treier. Großbritan­nien selbst habe noch mehr zu verlieren.

Von Lamentiere­n hält GrünenAuße­nexperte Omid Nouripour nichts. „Wir müssen unseren britischen Freunden klarmachen, dass wir sie in der EU brauchen“, sagte er. „Noch ist nichts verloren“, bekräftigt­e er. Besorgt zeigte sich auch Linken-Außenpolit­iker Stefan Liebich. Das Votum für die Konservati­ven öffne „die Tür für einen Ausstieg Großbritan­niens“, sagte er. Leitartike­l Seite A 2 Stimme desWestens Seite A2

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