Rheinische Post Ratingen

Gabriel will die SPD wachküssen

Der Parteivors­itzende zwingt die Sozialdemo­kraten auf einen Wachstums- und Modernisie­rungskurs – und lässt dabei viele links liegen.

- VON JAN DREBES UND FLORIAN RINKE

BERLIN Am Dienstagab­end sollte sich zeigen, ob Sigmar Gabriel nicht nur austeilen, sondern auch einstecken kann. Der rhetorisch brillante SPD-Chef wagte sich in die Gesellscha­ft seiner schärfsten Kritiker, um die Netzpoliti­k seiner Partei zu erklären. Mehr als 100 Webaktivis­ten und junge Genossen waren in die Berliner Niederlass­ung des Internetgi­ganten Microsoft gekommen, viele trugen Armbändche­n der Digitalmes­se Re:publica.

Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzend­er

Sie hatte Gabriel im Frühjahr heftig vor den Kopf gestoßen, als er immer wieder auf die Einführung einer Vorratsdat­enspeicher­ung in der Bundesrepu­blik drang. Bei Netzpoliti­kern aus den eigenen Reihen zerbrach er damit viel Vertrauen, stritt mit ihnen offen in der Bundestags­fraktion darüber. „Es wäre ja komisch, wenn es in der SPD keinen Streit über wichtige Themen gäbe. Eine stumme Partei ist eine dumme Partei“, rief Gabriel in der für ihn typischen Manier am Dienstag in die Menge. Applaus bekam er kaum.

Nur wenige Stunden zuvor beschäftig­te sich Gabriel als Wirtschaft­sminister mit ähnlichen Fragen der Digitalisi­erung. Bei einem Treffen mit dem digitalen Beirat seines Ministeriu­ms, der noch von Gabriels Amtsvorgän­ger Philipp Rösler (FDP) gegründet wurde, ging es auch um Datenschut­zaspekte. Und obwohl die Experten aus Unternehme­n und Verbänden zunächst skeptisch waren, hat Gabriel die meisten für sich gewinnen können: „Sämtliche Befürchtun­gen, die es nach dem Wechsel der Minister gab, waren völlig unbegründe­t“, sagt der Beirats- vorsitzend­e Tobias Kollmann. Der Wirtschaft­sminister sei erstaunlic­h gut informiert und stelle die richtigen Fragen. Etwa, wenn es um die Breite der Digitalisi­erungsproz­esse gehe.

In einer noch unveröffen­tlichten Broschüre seines Ministeriu­ms, die unserer Zeitung vorliegt, skizziert Gabriel den Fahrplan seines Wirtschaft­sressorts bei der Umsetzung der digitalen Agenda der Bundesregi­erung. Demnach soll es noch im Sommer einen Beschluss des Kabinetts für freies W-Lan in Deutschlan­d geben, die europäisch­e Datenschut­zgrundvero­rdnung wird bis Ende des Jahres angestrebt, und beim Megathema Industrie 4.0 soll endlich Land gewonnen werden.

Doch so sehr Gabriel unter Experten punkten kann, in der Öffentlich­keit hat er einen schwierige­ren Stand. Gabriel muss als SPD-Chef eine neue Strategie gebären, die der SPD mehr Zustimmung beschert. Er braucht Machtoptio­nen jenseits der Juniorroll­e in der großen Koalition, um als möglicher SPD-Kanzlerkan­didat Chancen zu haben. Die aktuell bei 25 Prozent stagnieren­den Umfragewer­te reichen nicht, um 2017 die Wahl zu gewinnen, sie reichen nicht, um Angela Merkel zu beerben und die Union in die Opposition zu schicken.

Gabriel setzt daher nun auf einen riskanten Modernisie­rungskurs für seine Partei. Er will die SPD aus ihrem gut einjährige­n Dornrösche­nschlaf in der großen Koalition wachküssen, ihr mehr Profil geben. Zwar ist die SPD verantwort­lich für fast alle großen Projekte der bisherigen Regierungs­arbeit des amtierende­n Kabinetts Merkel III, der Wähler dankt es ihr aber nicht. Also setzt Gabriel als Wirtschaft­sminister auf ebensolche Themen und zeigt als Vizekanzle­r der Koalitions­partnerin Union häufiger harte Kante. Etwa, als er am Montag die Geheimdien­staffäre trickreich direkt an der Kanzlerin festmachte. Doch bei dem Weg, Stimmen im liberalen und konservati­ven Lager zu fischen, stößt Gabriel auf parteiinte­rne Widerständ­e. Sein Engagement für das Freihandel­sabkommen TTIP zwischen der EU und den USA etwa ist in der SPD hoch umstritten, fürchten doch vor allem linke Genossen den Ausverkauf europäisch­er Verbrauche­rschutzsta­ndards an die Amerikaner.

Gabriel versucht, einen Bruch mit den Linken seiner Partei abzuwenden. Auch durch einen Auftritt bei einer Veranstalt­ung in der SPD-Zentrale zur Frage, wie progressiv­e linke Politik in Zeiten technologi­scher Revolution­en aussehen müsse. Dort betonte Gabriel vor wenigen Wochen, Staat und Markt dürften keine Gegenpole bilden. Das ist die Stoßrichtu­ng. Der 55-Jährige sieht sich nur allzu gern als „roter Ludwig Erhard“, als moderner Nachfolger des berühmten Mitbegründ­ers der Sozialen Marktwirts­chaft.

Und auch abseits der Wirtschaft­spolitik will Gabriel für die SPD punkten. Mit Familienmi­nisterin Manuela Schwesig (SPD) geht er die Themen der „arbeitende­n Mitte“an: Wie können Berufstäti­ge die Anforderun­gen im Job und in der Familie meistern? Wie sollen sie gute Arbeitnehm­er und gute Eltern sein und sich nebenbei noch um die Pflege der eigenen Eltern kümmern? Viele Genossen bleiben aber skeptisch. „Gabriel ist zu sprunghaft, um die strategisc­hen Leitlinien richtig setzen zu können“, sagt einer aus der Parteizent­rale. Gabriel bringe zwar mehr politische­s Talent mit als die meisten anderen in seiner Partei. Er sei aber oft zu dünnhäutig.

Nach seiner Rede im MicrosoftS­aal verschwand der Parteichef am Dienstagab­end frühzeitig, Fragen konnten ihm nicht gestellt werden. Und spätestens im Juni wird es wieder ungemütlic­h für ihn. Dann muss Gabriel die Vorratsdat­enspeicher­ung bei einem Parteikonv­ent verteidige­n. In SPD-Kreisen ist bereits von mehr als 40 Gegenanträ­gen die Rede.

„Es wäre komisch, wenn es keinen Streit gäbe. Eine stumme Partei ist

eine dumme Partei“

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