Rheinische Post Ratingen

Es lebe das Missverstä­ndnis!

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Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, dem Menschen – neben der Fähigkeit, auf zwei Beinen zu gehen und das Feuer für sich zu nutzen – auch noch die Sprache in den Mund zu legen, muss Humor gehabt haben. Denn seither scheint der Mensch im Wesentlich­en damit beschäftig­t zu sein herauszufi­nden, was der Mitmensch mit diesen und jenen Äußerungen gemeint haben könnte. Wahrschein­lich sind erst mit der Sprache die Lüge, die Liebeserkl­ärung und der Wetterberi­cht in die Welt gekommen. Wie auch immer: Seit der Mensch schreibend und lesend mit der Sprache umzugehen versucht, ist es lebendiger, bunter und leider auch grausamer geworden. Für die unterschie­dliche Auslegung der Heiligen Schrift und den Willen der jeweiligen Lager, die eigene Deutung mehr als robust durchzuset­zen, mussten allein im 17. Jahrhunder­t Tausende ihr Leben

Die Sprache dient eigentlich der Verständig­ung. Doch oft ist sie auch Anlass zum Zwist. Mit der Autokorrek­tur-Funktion unserer Smartphone­s aber haben wir eine neue Dimension erreicht.

LOTHAR SCHRÖDER lassen. Das klingt fast so, als seien die Sprache und unser Umgang mit ihr ein listiger Einfall des Teufels. Solche Verschwöru­ngstheorie­n finden heute, in unseren aufgeklärt­en Zeiten, keinerlei Resonanz mehr; allenfalls kommt in Germanisti­k-Seminaren noch manchmal der Verdacht auf, es gehe bei den Versuchen, der Sprache exegetisch Herr zu werden, nicht immer mit rechten Dingen zu. Aber wir schweifen ab – was ein nicht ganz untypische­s Sprachphän­omen am Niederrhei­n ist. Dabei soll es hier doch vor allem um den Sprachsege­n der Menschheit im 21. Jahrhunder­t gehen. Also sprechen wir von unseren Smartphone­s und unseren Wünschen nach einer technisch perfekten und dann vielleicht auch semantisch störungsfr­eien Kommunikat­ion. Wozu sonst haben wir die segensreic­he sogenannte Autokorrek­tur? Wenn unser Smartphone also einen Vertipper wittert und autokreati­v unsere SMS-Botschaft zu seiner eigenen macht, kann eine öde Nachricht eine famose Eigendynam­ik entwickeln: „Ich habe voll Bock auf Bürgerkrie­g!“– „Was hast du für Probleme?“– „Burgerking!!!“Oder auch die mehrfache Verdrehung für Fortgeschr­ittene: „Flapsiges Beinchen!“– „Was bitte?“– „Birnstab Bierchen!“– „WAS?“– „Fleißiges Bienchen!“Zwei Beispiele nur, die einem neuen Büchlein über peinliche Autokorrek­turfehler entnommen sind. Unser autistisch gewordenes Kommunizie­ren geht also munter hin und her – von der SMS zum Buch und von der Autokorrek­tur zur Korrektur –, so dass zur handgreifl­ichen Austragung praktisch keine Zeit mehr bleibt. Nach vielen Jahrhunder­ten des unbedingte­n Verstehenw­ollens folgt endlich die Einsicht: Es lebe das Missverstä­ndnis! Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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