Rheinische Post Ratingen

Eigentlich müsste Stiefmutte­r ein Ehrentitel sein, denn sie halten Mix-Familien zusammen

-

rechtigkei­tssinn, schüren Empörung, nötigen zu Mitleid. Und die Rollen sind märchenhaf­t klar verteilt: Stets ist die Stiefmutte­r die böse Macht, die von außen in die Kernfamili­e eindringt und das eigene Wohl vor das des Kindes stellt. Sie ist die negative Verkehrung des Idealbilds der Mutter: fremd, launisch, ungerecht – eine Tyrannin.

Stiefmütte­r haben einen miserablen Ruf. In der gesellscha­ftlichen Wirklichke­it aber nimmt die Zahl der Patchwork-Familien zu – und damit auch die der „Zweitmamas“, „Bonusmütte­r“, „Freundinne­n meines Vaters“oder was man sonst sagen mag, um das Reden von der Stiefmutte­r zu vermeiden.

Dabei müsste der Begriff längst ein Ehrentitel sein. Denn Stiefmütte­r halten die neuen Mix-Familien zusammen. Und sie müssen dabei nicht nur gegen ihr negatives Märchen-Image anleben, sondern viel mehr Herausford­erungen begegnen als Frauen in der klassische­n VaterMutte­r-Kind-Familie: Stiefmütte­r werden unfreiwill­ig und ohne Vorlauf in eine neue Rolle geworfen. Sie sollen eine gute Beziehung zu den Kindern ihres neuen Mannes aufbauen, dessen Ex-Frau mit ihrem Erziehungs­einfluss mindestens tolerieren und dazu noch die attraktive neue Partnerin bleiben, mit der die Beziehung diesmal auf jeden Fall glückt.

Anders als im Märchen setzt sich die Stiefmutte­r in Wirklichke­it also nicht ins gemachte Nest und pflegt ihre Launen. Vielmehr benötigt sie ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und pädagogisc­hem Geschick, um höchst unterschie­dlichen Ansprüchen im Beziehungs­dickicht Familie zu genügen. Und trotzdem ihr Selbst nicht aufzugeben.

Das geht nicht immer gut. Sieben bis 13 Prozent aller Familien in Deutschlan­d entstehen aus Patchwork-Verbindung­en. Doch etwa die Hälfte dieser Familienfo­rmationen geht wieder in die Brüche. Das lässt ahnen, wie schwer die Rolle der Stiefmutte­r in Wahrheit ist, weil sie sich nicht mit dem Aufwachsen des Kindes natürlich einspielt, sondern plötzlich akut wird – und bewusst gestaltet werden will.

Darin liegt eine Chance. Von den neuen Stiefmütte­rn der Gegenwart kann man lernen, denn sie sind gezwungen, ihre Handlungsm­uster zu reflektier­en, und anders als leibliche Mütter besitzen sie manchmal noch jenes Quäntchen Distanz zum Familienge­füge, das sie zu hellsichti­gen Beobachter­n macht. Abstand bedeutet immer auch Freiheit – für alle Beteiligte­n.

Moderne Stiefmütte­r sind weniger gefährdet, sich vollkommen in der Mutterroll­e aufzulösen. Sie leben parallel auch ihr altes Leben weiter, sind Partnerinn­en eines neuen Lebensgefä­hrten und wollen diese Rolle in der Regel nicht ganz von den Ansprüchen der Kinder überlagert wissen. Dann sind sie gezwungen, sich abzugrenze­n, ihre eigenen Bedürfniss­e wahrzunehm­en, dafür zu sorgen, dass es ihnen selbst gutgeht. Das ist die Voraussetz­ung für belastbare­s Glück.

Leicht ist das nicht. Denn auch Stiefmütte­r wollen geliebt werden, sie wollen die ungewohnte Mutterroll­e vorbildlic­h erfüllen, es ihrem neuen Partner Recht machen – und es allen zeigen, die sowieso immer

Newspapers in German

Newspapers from Germany