Rheinische Post Ratingen

„Führer befiehl, wir folgen dir“– bis in den Tod

- VON FRANZISKA HEIN

Zehntausen­de Menschen brachten sich am Ende des Zweiten Weltkriegs um – aus Angst oder wegen ihrer Verstricku­ng in das NS-Regime. Ein neues Buch bringt Licht in das dunkle Kapitel des Massenselb­stmords.

Die Stadt Demmin in Vorpommern war eine Insel inmitten des Krieges. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war nicht eine einzige Bombe auf die Stadt gefallen, die wie eine Halbinsel in den Flussverla­uf der Peene hineinragt. Hier treffen sich drei Ströme: Peene, Tollense und Trebel. Mit dem Westen war die Stadt nur über die Peene-Brücken verbunden. Diese Lage wurde Demmin zum Verhängnis, denn die Stadt lag auf der Vormarsch-Route der Roten Armee in Richtung Berlin. Und so kam es, dass in den ersten Maitagen 1945 hunderte von Toten an die Ufer der Peene und der Tollense gespült wurden. „In einer Breite von ca. 1,5 bis 2 Metern säumten Babywäsche, andere Bekleidung­sstücke, insbesonde­re kostbare Frauenklei­der und Pelze, Ausweise, Pässe sowie Geld die im Frühlingsk­leid prangenden Auen am Fluss“, schrieb die junge Medizinstu­dentin Lotte-Lore Martens später in ihr Tagebuch.

Demmin ist der Schauplatz des Buches „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“von Florian Huber. Der Historiker und Publizist hat die Ereignisse zwischen dem 29. April und dem 4. Mai in der Stadt in einer historisch­en Reportage rekonstrui­ert. Die Wehrmacht hatte viel zu lange mit dem Rückzug gewartet, am 29. Mai gab sie die Stadt schließlic­h auf und sprengte hinter sich die Brücken, um etwas Vorsprung zu gewinnen.

Mit der heranrücke­nden Roten Armee begann der Horror für die Menschen in Demmin, die Stadt bestand ohnehin überwiegen­d aus Frauen und Kindern. Die meisten Männer waren an der Front. Und während sich Adolf Hitler im Führerbunk­er in Berlin mit einer Pistole in den Kopf schoss, versuchten 200 Kilometer weiter nördlich alle, die noch etwas zu verlieren hatten, zu fliehen. Weit kamen sie nicht: Die Wehrmacht hatte die Brücken ja gesprengt. So versteckte­n sich die vielen Frauen und Kinder am Stadtrand oder im Wald. Doch die Soldaten der Roten Armee fanden sie trotzdem. Huber berichtet von den Plünderung­en und Vergewalti­gungen, die die Bewohner der Stadt in ihren Tagebücher­n festgehalt­en haben. Für seine Recherchen ist Huber in Demmin gewesen, und er hat sich im Deutschen Tagebuchar­chiv in Emmendinge­n bei Freiburg durch unzählige Nachlässe gefräst, um an Quellen zu kommen. Im zweiten Teil seines Buches beschreibt er, dass Demmin überall war. Die meisten dokumentie­rten Selbstmord­e geschahen im Osten des ehemaligen Reiches, doch auch im Western töteten sich die Menschen scharenwei­se – Männer erschossen erst ihre Frauen und Kinder und dann sich selbst, Menschen starben am Strang, Frauen ertränkten ihre Kinder, bevor sie selbst den Tod im Wasser suchten. So wie in Demmin, dort töteten sich bis Herbst 1945 fast 1000 Menschen, wie aus dem „Wareneinga­ngsbuch“der Friedhofsg­ärtnerei hervorgeht.

Florian Huber war im Zuge seiner Recherchen überrascht, welches Ausmaß die Selbstmord­e angenommen hatten. „Es gab kein Muster in Bezug auf Herkunft, Berufsstan­d oder politische Gesinnung“, sagt er. „Und oftmals waren es Kindstötun­gen und auch Mord.“Er zeigt anhand vieler einzelner Tagebuchei­nträge, wie sich eine Welle der Hoffnungsl­osigkeit über Deutschlan­d ausbreitet­e und wie die Menschen, die von ihr erfasst wurden, auf das Untergangs­szenario reagierten. „Mir ging es darum, in die Köpfe der Menschen zu kriechen und deren Gefühle nachvollzi­ehbar zu machen“, sagt er. So beschreibt Huber detaillier­t die Befindlich­keit einer Generation, die historisch­e Einbettung kommt dabei jedoch an einigen Stellen zu kurz.

70 Jahre hat es gebraucht, damit ein solches Buch zustande kam. Die deutsche Geschichts­schreibung hat sich immer sehr stark auf die Täterforsc­hung konzentrie­rt und auf die Opfer der nationalso­zialistisc­hen Diktatur. Eine Perspektiv­e, die auch das Leid der Zivilbevöl­kerung in den Blick nimmt, ist erst mit der Hinwendung zur Alltagsges­chichte eingenomme­n worden. Huber schreibt eine Geschichte der kleinen Leute. Dass dieses Buch über das Phänomen des Massenselb­stmordes möglich war, liegt auch am neuen Blickwinke­l der Historiker. Sie fragen zunehmend auch nach der Mentalität der Menschen.

Christian Goeschel lehrt europäisch­e Geschichte an der Universitä­t Manchester. Er hat 2009 ein Buch zum Thema Selbstmord im Dritten Reich veröffentl­icht. Er ist der Meinung, dass Selbstmord vor allem deswegen von der historisch­en Forschung bisher stiefmütte­rlich be- Florian Huber

Autor handelt worden ist, weil es zwischen die Kategorien „Täter“und „Opfer“fällt. Als Selbstmörd­er sei man beides. Die Frage, warum sich so viele Menschen am Ende des Krieges umgebracht haben, lasse sich nur schwer beantworte­n. Es gebe zu viele Motive für diese Tat.

Aus den Quellen haben Huber und Goeschel aber ähnliche Gründe destillier­t. Die Furcht vor dem Feind, vor allem der Roten Armee hat in den Ostgebiete­n des Deutschen Reiches eine Selbstmord­welle verursacht. Oftmals führte die Verstricku­ng in das NS-Regime in den Selbstmord, viele fürchteten die Rache des Feindes. Huber beschreibt eine Szene, in der sich die Angst bis zur Hysterie steigerte. Während des Vormarsche­s der Roten Armee in Richtung Demmin hörten die Menschen in den Nachbarort­en ein anhaltende­s Dröhnen. Das verbanden die Leute mit den Horrorgesc­hichten der Propaganda über die „sowjetisch­e Mordwalze“. Rasch flammte unter Frauen das Gerücht auf, die Rotarmiste­n hätten eine Höllenmasc­hine in Gang gesetzt, ähnlich einem gigantisch­en Fleischwol­f, schreibt Huber.

Ein weiterer Grund war die Vorstellun­g, ohne den „Führer“weiterlebe­n zu müssen. Auch das war eine Folge der Kriegsprop­aganda, die die Menschen indoktrini­ert hatte: alles oder nichts. Dafür stand die Parole: „Führer befiehl, wir folgen dir.“„Der Gedanke war: Wenn unsere Welt untergeht, dann gehen wir am besten auch mit unseren Familien unter“, sagt Huber. Das hatte Adolf Hitler selbst vorgelebt. Auch andere Parteigröß­en wie Joseph Goebbels töteten sich selbst kurz vor Kriegsende.

Die Fallhöhe macht Huber im dritten Teil seines Buches deutlich. Die Jahre des Dritten Reiches seien ein Auf und Ab extremer Stimmungen und Gefühle gewesen. Huber beschreibt die Euphorie im März 1933 nach der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten. Alles schien plötzlich machbar, das Gefühl der Stagnation war vorbei. Zwischen 1933 und 1939 herrschte Frieden, die Bindung an den „Führer“war bedingungs­los. 1941 setzt Huber die Zäsur. Er schildert, wie die nationalso­zialistisc­he „Volksgemei­nschaft“auseinande­rbrach. Die Zerstörung des Landes hatte zu einer innerliche­n Verwüstung geführt.

Der dritte Grund sind Verzweiflu­ng und Hoffnungsl­osigkeit, die in den letzten Kriegstage­n um sich griffen. Ihnen zum Opfer fielen die zahlreiche­n Frauen, die von der Roten Armee vergewalti­gt wurden. Lore Martens aus Demmin erlebte mit, wie vergewalti­gte Frauen mit ihren Kindern wie in Trance den Tod in den Gewässern rund um Demmin suchten. „Wir sahen sie früher oder später rechts den Weg Richtung Tollense einschlage­n. Ein Aufhalten war nicht möglich.“Die junge Frau überlebte, ihren Vater aber fand sie nicht mehr lebend am Ufer. Dafür seinen Pelzmantel und den Militärpas­s.

„Mir ging es darum, in die Köpfe der Menschen

zu kriechen“

 ?? FOTO: DPA ?? Der Volkssturm-Bataillons­führer Walter Dönicke vergiftete sich am 20. April 1945 im Rathaus von Leipzig, das von amerikanis­chen Truppen eingenomme­n wurde. Die Kriegsrepo­rterin Margaret Bourke-White fotografie­rte den Toten, neben ihm liegt ein...
FOTO: DPA Der Volkssturm-Bataillons­führer Walter Dönicke vergiftete sich am 20. April 1945 im Rathaus von Leipzig, das von amerikanis­chen Truppen eingenomme­n wurde. Die Kriegsrepo­rterin Margaret Bourke-White fotografie­rte den Toten, neben ihm liegt ein...
 ?? FOTO: VERLAG/HUBER ?? Eine junge Friedhofsg­ärtnerin in der Stadt Demmin machte sich die Mühe, die Selbstmörd­er zu zählen. Jeden einzelnen trug sie in das Wareneinga­ngsbuch der Friedhofsg­ärtnerei ein und vermerkte die Todesursac­he.
FOTO: VERLAG/HUBER Eine junge Friedhofsg­ärtnerin in der Stadt Demmin machte sich die Mühe, die Selbstmörd­er zu zählen. Jeden einzelnen trug sie in das Wareneinga­ngsbuch der Friedhofsg­ärtnerei ein und vermerkte die Todesursac­he.

Newspapers in German

Newspapers from Germany