Rheinische Post Ratingen

Daniel Kehlmann beschwört Geister

„Kommt, Geister“– die Frankfurte­r Poetikvorl­esungen des Bestseller­autors.

- VON WELF GROMBACHER

Günter Grass hatte gerade sein israelkrit­isches Gedicht „Was gesagt werden muss“(2012) veröffentl­icht, als Daniel Kehlmann von ein paar Amerikaner­n angesproch­en wurde. „Was für ein albernes Gedicht“, meinten die. „Welch ein Wichtigtue­r, und überhaupt, immer dieses Politikerg­ehabe, das Moralisier­en!“Kehlmann erschien das alles nicht falsch, er erinnerte sich aber an die Samstagnac­hmittage seiner Kindheit, suchte auf Youtube Filme von Peter Alexander und spielte sie den Amerikaner­n vor. Nach fünf Minuten wurde er gebeten, abzuschalt­en, nach sieben Minuten laut, nach neun wurde ihm Gewalt angedroht: „Und auf einmal hatte keiner von uns mehr Lust, über die Gruppe 47 zu spotten.“

Die Filmchen von Peter Alexander stehen für die „Film gewordenen Verdrängun­g“der deutschen Nachkriegs­ära. „Auf einmal mochten wir Günter Grass wieder. Auf einmal waren wir ihm dankbar.“Die Anekdote ist der Auftakt zu Daniel Kehlmanns Frankfurte­r Poetikvorl­esungen, die er im Sommer 2014 an der Goethe Universitä­t hielt und die jetzt unter dem Titel „Kommt, Geister“als Buch erscheinen. Insgesamt sind es vier Vorlesunge­n – unter anderem über die deutsche Nachkriegs­literatur, in dem Kehlmann Bezug nimmt auf das Werk Ingeborg Bachmanns. Als Tochter eines überzeugte­n NSDAP-Mitgliedes und Wehrmachts­offiziers, der ihr zugleich aber ein guter, liebender Vater war, konnte sie sich aus diesem inneren Konflikt nie befreien und versuchte ihn schreibend zu bewältigen. So offen wie Bachmann aber gingen nicht alle mit der deutschen Vergangenh­eit um. Statt Kriegsverb­rechen aufzuarbei­ten, einigte man sich auf unverfängl­iche Unterhaltu­ng, auf harmlose Komödien.

Ohne einen moralische­n Zeigefinge­r zu erheben, schaut Kehlmann zurück. Aber leider verfällt er zu oft ins Nacherzähl­en seiner Lieblingsb­ücher. Er berichtet, wie er mit neun Jahren im Bücherschr­ank der Eltern Jeremias Gotthelfs „Die schwarze Spinne“entdeckte. „Noch nie hatte ich mich so gefürchtet. Nie zuvor solche Albträume, nie so eine Intensität der Angst.“Es folgen Tolkien und Stephen King, bevor die Geister Shakespear­es ihn in ihren Bann ziehen. Sein Credo: Literatur muss etwas wagen, sich den dunklen Seiten stellen, will sie etwas Großes hervorbrin­gen.

Über den Menschen Daniel Kehlmann und seine Arbeit erfährt man wenig. Stattdesse­n gibt er eine ausführlic­he Inhaltsang­abe des „Simpliciss­imus“oder erzählt die Handlung der Romane von Leo Perutz (1882–1957) nach, dem Schriftste­ller, der ihn neben Thomas Mann am meisten geprägt habe. Eine Erzählung, so Kehlmann, „muss wahrschein­lich sein und doch unvorherse­hbar; etwas, das im selben Moment naheliegen­d und unwahrsche­inlich ist, verbietet sich. Die Wirklichke­it aber braucht weder den Gesetzen der Dramaturgi­e zu folgen noch denen des guten Geschmacks, sondern nur den allzeit unvollstän­digen Regeln der Logik.“ Daniel Kehlmann: Kommt, Geister. Frankfurte­r Vorlesunge­n. Rowohlt, 176 Seiten, 19,95 Euro

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Daniel Kehlmann
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