Rheinische Post Ratingen

Isabelle Huppert hat gute Chancen auf den Oscar

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Der Film hat schon begonnen, aber die Leinwand bleibt schwarz. Umso eindringli­cher wirkt, was man zu hören bekommt: das Stöhnen einer Frau, Schläge auf Fleisch, splitternd­es Glas. Man weiß nicht, wohin man geraten ist, ob es um Lust geht oder um Gewalt, und als die Linse der Kamera sich öffnet, sieht man in die Augen einer Katze. Das Tier ist schwarz, es verfolgt, was passiert, und es wendet sich ab. Nun darf man selbst hinschauen, und man erblickt einen maskierten Mann, der sich von einer blutenden, auf dem Parkett liegenden Frau erhebt. Er schließt seine Hose und verschwind­et durch die Terrassent­ür.

„Elle“heißt dieser dornige, brutale und irritieren­de Film. Paul Verhoeven hat ihn gedreht, jener Regisseur, der in den 90er Jahren eine große Nummer in Hollywood war, „Robocop“ins Kino brachte, „Total Recall“und „Basic Instinct“. Mit „Showgirls“und „Starship Troopers“lieferte er dann aber große Flops und fiel in Ungnade. Jetzt ist er zurück, über den Umweg Frankreich, und das Comeback des 78Jährigen macht seine Hauptdarst­ellerin möglich: Isabelle Huppert.

Sie ist Michèle, die Frau, die in ihrem Pariser Stadthaus vergewalti­gt wurde, aber kein Opfer sein möchte. Huppert spielt mit einer bisweilen gruseligen Coolness, Ruhe und Unnahbarke­it. Nach dem Verbrechen wirft sie ihre Kleidung in den Müll, badet und bestellt Sushi. Sie lässt sich auf Geschlecht­skrankheit­en untersuche­n, geht aber nicht zur Polizei. Ihrem Sohn sagt sie, das blaue Auge sei Folge eines FahrradStu­rzes, und als sie Freunden im Restaurant unaufgereg­t berichtet, was passiert ist, bringt der Kellner eine Flasche Piper-Heidsieck. „Perfekt“, sagt einer der Freunde, „aber öffnen Sie sie erst in fünf Minuten.“

Das Drehbuch von „Elle“ist nicht durchgängi­g gelungen, es will zu viel. Manchmal denkt man, der Film habe eine Satire auf den diskreten Charme der Bourgeoisi­e im Sinne Luis Buñuels werden sollen, dann ist er doch wieder ein Thriller à la Alfred Hitchcock und schließlic­h das Porträt einer Frau in den mittleren Jahren mit Verweisen auf Claude Chabrol. Die Defizite werden aber wettgemach­t durch die Leistung von Huppert.

Ihre Michèle ist nicht zu fassen, diese Frau bleibt dem Zuschauer ein Rätsel, weil sie sich an keiner Stelle nachvollzi­ehbar verhält. Müsste sie nicht Schutz suchen? Oder weinen? Oder auf Rache sinnen? Müsste sie nicht erschütter­t sein? Oder ihr Haus zu einer Festung umrüsten? Nichts von alledem ist der Fall. Sie bewahrt ihr Geheimnis, und gerade das macht diese Figur so besonders. Michèle möchte nicht verstanden werden. Sie möchte nur zu ihren eigenen Bedingunge­n wahrgenomm­en werden.

Michèle bekommt SMS von einem Unbekannte­n. Sie leitet eine Firma, die Computersp­iele entwickelt, und ein Fremder schickt an alle Mitarbeite­r gefälschte Gewaltvide­os, in denen Michèle misshandel­t wird. Das bringt die Angegriffe­ne aber nicht aus der Fassung. Sie kauft sich ein Beil und Pfefferspr­ay, und es wirkt, als suche sie sich Schmuck beim Juwelier aus. Nebenbei unterhält sie eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin und Geschäftsp­artnerin, und bei einer Weihnachts­feier schiebt sie ihrem verheirate­ten Nachbarn den Fuß zwischen die Beine und trinkt Rotwein dabei. Man kann Michèle nicht sympathisc­h finden und ist dennoch fasziniert von ihrer Chuzpe, Nonchalanc­e, der harten Intellektu­alität.

Manchmal indes, wirklich sehr selten, entdeckt man Lücken im Panzer von Michèle. Über winzige Gesten vermittelt Huppert emotionale Erschütter­ungen, Mikroeinsi­chten in die Seele. Brüche, durch die Licht dringt. Verhoeven dichtet ihr eine dramatisch­e Biografie an: Ihr Vater tötete einst 27 Menschen in einer Wohnstraße in Nantes. Ganz Frankreich kennt diesen Fall, und weil der Vater festgenomm­en wurde, als er mit der zehn Jahre alten Michèle Spuren der Tat verbrannte und Michèle in Unterwäsch­e vor dem Scheiterha­ufen fotografie­rt wurde, ist sie der Nation als kindliche Hexe in Erinnerung.

In Rückblende­n kehrt Verhoeven auf diesen Fall zurück, und wenn Huppert mit schmalen Lippen und halb gesenkten Lidern durch ihr Leben schreitet, meint man eine Frage über ihrem Kopf stehen zu sehen: Wie stieß mir dieses Ich bloß zu? Auszeichnu­ng Für „Elle“gewann die 63-jährige Isabelle Huppert den Golden Globe. Auch für den Oscar ist sie nominiert. Vorlage Die Vorlage für „Elle“lieferte der Schriftste­ller Philippe Dijan mit seinem Roman „Oh...“(Diogenes, 240 S., 12 Euro).

Verhoeven hat erwähnt, dass keine US-Schauspiel­erin diese Rolle habe spielen wollen. Man kann das verstehen, es ist eine gefährlich­e Rolle, „amoralisch“nennt Verhoeven sie, und just aus diesem Grund ist sie ideal für jene Künstlerin, die womöglich Europas beste Schauspiel­erin ist. Huppert spielt seit Jahren Figuren, die einander ähneln, weil sie den Zuschauer virtuos auf Distanz halten, obwohl er durchaus bereit wäre, sie zu umarmen. Huppert spielt stets mit unglaublic­her Präzision und konsequent innerhalb der Vorgaben, die sie ihren Figuren zu Beginn steckt. Man nehme nur „Alles was kommt“, jenen Film aus dem vergangene­n Jahr, in dem Huppert eine Lehrerin verkörpert, die sich von ihrem Mann getrennt hat. Der Film mutet wie eine Vorstudie zu „Elle“an.

Allmählich merkt man, dass Michèle sich den Zuschreibu­ngen und Erwartunge­n durch Unverbrüch­lichkeit entzieht, dass sie die Suche nach sich selbst hinter der eigenen Stirn zu Ende bringt. „Das Gefühl der Schande hat uns noch nie am Handeln gehindert“, sagt sie. Dann steht der Vergewalti­ger erneut in ihrem Wohnzimmer, und es kommt alles anders als man denkt.

Nicht mal die Katze mag mehr hinsehen. Elle, Frankreich 2016 – Regie: Paul Verhoeven, mit Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Christian Berkel, 126 Min.

Manchmal steht eine Frage über ihrem Kopf: Wie stieß mir dieses Ich bloß zu?

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