NRW soll vergeblich vor Amri gewarnt haben
Ein Gutachter der Düsseldorfer Landesregierung erhebt Vorwürfe gegen Behörden in Berlin: Sie seien zu sorglos mit dem späteren Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri umgegangen. NRW habe keine relevanten Fehler gemacht.
DÜSSELDORF Für den Gutachter, den die Landesregierung selbst bestellt hat, ist die Sache klar: „Ich sehe keine relevanten Versäumnisse von Stellen oder Behörden in NRW, die den Anschlag ermöglicht hätten“, sagte Bernhard Kretschmer gestern bei der Vorstellung seiner Studie. Zwei Monate lang hatte der Strafrechtler der Universität Gießen nach möglichen Behördenpannen im Umgang mit Anis Amri, der im Dezember bei einem Attentat in Berlin zwölf Menschen tötete, gesucht. Bernhard Kretschmer Strafrechtler an der Universität Gießen
Verfassungsschutz und Landeskriminalamt aus Düsseldorf hätten im Gegenteil bei länderübergreifenden Sicherheitskonferenzen immer wieder die Aufmerksamkeit auf Amri gelenkt und noch im November eine höhere Sicherheitsstufe für den damals schon als potenziellen Terroristen bekannten Tunesier eingefordert. NRW habe sich damit gegenüber den anderen rund 40 Vertretern des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ) nicht durchsetzen können. In Berlin, wo Amri zu diesem Zeitpunkt lebte, sahen die Sicherheitsbehörden ihn eher als Anwärter für eine Drogen- und Kleinkriminellen-Karriere und fuhren die Überwachungsmaßnahmen zurück: „NRW hat das damals ernster genommen als die Behörden in Berlin und des Bundes“, so Kretschmer. Berlin habe Amri „zu schnell aus dem Blick genommen“. Er habe Verständnis für den Unmut der Bevölkerung. Es sei für Außenstehende schwer nachvollziehbar, warum Amri nicht an seinem Attentat gehindert wurde, obwohl die Behörden ihn schon Monate zuvor als terrorbereiten Gefährder eingestuft und überwacht hatten.
Schon im März 2016 wertete das Düsseldorfer Landeskriminalamt Chat-Protokolle von Anis Amri als verklausulierte Ankündigung eines Attentats – und informierte das NRW-Innenministerium. „Bei näherer Betrachtung erweisen diese Protokolle sich aber als sehr blumige Beschreibungen, die auch etwas ganz anderes bedeuten können“, so Kretschmer. Für einen konkreten Terrorverdacht seien die Chats nicht ausreichend gewesen. Amri hätte Deutschland durch den abgelehnten Asylbescheid ohnehin verlassen müssen. Tunesien habe jedoch behauptet, Amri nicht zu kennen. Mangels Ausweispapieren hätte Amri auch nicht in Abschiebehaft genommen werden können. Seine sonstigen kriminellen Vergehen, darunter ein mutmaßlicher Fahrraddiebstahl und Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht, seien nach geltender Rechtsprechung keine ausreichenden Haftgründe gewesen.
Mit dem Gutachten wollte die Landesregierung die Gründung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) verhindern, der auf Betreiben vor allem von CDU und FDP nun doch seit Februar nach Fehlern der überwiegend NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) unterstellten Behörden im Umgang mit Amri sucht. Kretschmers Gutachten lehnte die Opposition gestern ab: „Die Ergebnisse haben ein einziges Ziel: Frau Kraft und Herrn Jäger aus der Schusslinie zu nehmen“, sagte gestern CDU-Innenpolitiker Daniel Sieveke. Sein FDP-Kollege Joachim Stamp kam zum gleichen Urteil. Stamp: „Die tatsächliche Aufklärungsarbeit muss jetzt im Untersuchungsausschuss geleistet werden.“
Medienberichte, denen zufolge Kretschmer wegen einer parallelen Bewerbung um eine Professur an der Uni Bielefeld in einem Interessenkonflikt gestanden habe, dementierte Kretschmer. Anders als berichtet sei die Bewerbungsfrist nicht im Januar 2017, sondern schon vor einem Jahr abgelaufen.
„NRW hat das damals ernster genommen als die Behörden in Berlin“