„Für eine Evakuierung fehlt uns das Geld“
Hurrikan „Harvey“zerstört mit Windböen von bis zu 210 Stundenkilometern weite Teile der Kleinstadt Rockport am Golf von Mexiko.
ROCKPORT In normalen Zeiten ist Rockport ein schläfriges, idyllisches Städtchen am Meer. Rund 10.000 Einwohner, ein Hafen, Fischrestaurants, kleine Boutiquen. Doch nachdem der Hurrikan „Harvey“mit Windböen von bis zu 210 Stundenkilometern über Rockport hinweggefegt ist, ist der Ort kaum noch wiederzuerkennen. Manche Häuser sind komplett zerstört, einem Hotel fehlt die Außenwand, sodass der Blick von der Straße direkt in die Zimmer geht. Umgestürzte Bäume, umgeknickte Strommasten. Ein verbogenes Stahlgerippe, das einmal ein Bootslager war. Die Luftaufnahmen, die der Fernsehsender NBC gestern aus Rockport sendete, zeigten eine Seenlandschaft, wo sonst Highways verlaufen.
In der Nacht zum Samstag war „Harvey“über die Kleinstadt am Golf von Mexiko hinweggezogen, ein Hurrikan der Kategorie vier, stärker noch als Katrina, der Sturm, der 2005 in New Orleans die Dämme brechen ließ. „Er hat uns direkt an der Nase erwischt“, sagt Charles Wax, der Bürgermeister, und spricht von flächendeckender Verwüstung. Das wahre Ausmaß lasse sich nur erahnen, stundenlang sei es zu gefährlich gewesen, Rettungskräfte hinauszuschicken, von Inspektoren gar nicht zu reden. „Ich habe hier Gebäude, die auf der Straße liegen“, schildert Wax die Situation.
Trotz mehrfacher Aufforderungen zur Evakuierung soll, so schätzen US-Medien, nahezu die Hälfte der Bewohner den Wirbelsturm in Rockport ausgesessen haben. Natürlich habe sie die Entscheidung nicht des Nervenkitzels wegen getroffen, sagt Amanda Evans, als sie vor einer Fernsehkamera steht. „Evakuierung? Dafür fehlt uns das Geld.“Allein die Aussicht, irgendwo im Landesinnern für mehrere Nächte ein Hotelzimmer buchen zu müssen, bewog Evans zum Bleiben. „Es war schlimm“, beschreibt sie die Nacht. „Ab ein Uhr haben wir nur noch gebetet.“Der Strom ist ausgefallen, die Klärwerke arbeiten nicht mehr. Wasser müsse abgekocht werden, bevor man es trinke, lautet der dringende Rat der Behörden.
Obwohl „Harvey“bereits nach wenigen Stunden zum Tropensturm herabgestuft wurde, scheint das Schlimmste noch nicht überstanden. Sintflutartige Regenfälle – Prognosen zufolge könnte es bis Dienstag regnen – drohen weitere schwere Schäden zu verursachen. Vor allem in Houston, der viertgrößten Stadt der Vereinigten Staaten, wo binnen 24 Stunden mehr als fünfzig Zentimeter Niederschlag fielen. Anschwellende Bäche und Flüsse könnten ganze Wohnviertel unter Wasser setzen, hatte der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, gewarnt.
Genau das ist in der Nacht zum Sonntag vielerorts in Houston geschehen, abzulesen an den Tweets, die Ed Gonzalez alle paar Minuten absetzte. „Willow Water Hole um 3,45 Fuß über die Ufer getreten“, schrieb er um 4.13 Uhr, der Sheriff von Harris County, einem Verwaltungsbezirk, der praktisch identisch ist mit Houston. „Falls Sie sich in unmittelbarer Gefahr befinden, versuchen Sie 911 anzurufen.“„Falls es schlimmer wird, sollten Sie sich aufs Dach begeben“– aufs Dach, nicht Amanda Evans Bewohnerin von Rockport auf den Dachboden. 911 ist die Nummer des Notrufs, 3,45 Fuß entsprechen etwas mehr als einem Meter. „Viele Nachbarn schreien um Hilfe“, twittert ein Mann um 4.40 Uhr. „Wo?“, fragt der Sheriff zurück. „Bitte 911 anrufen!“Eine Frau ertrank bei dem Versuch, einen überfluteten Straßenabschnitt im Auto zu passieren. Der Bürgermeister von Houston, Sylvester Turner, erklärte gestern Abend, es seien mehr als 2000 Notrufe aus den betroffenen Gebieten eingegangen.
Noch bevor „Harvey“bei Rockport aufs Festland prallte, hatte Präsident Donald Trump den Ausnahmezustand für den Küstenstreifen zwischen Corpus Christi und Houston verfügt. Für den Energiesektor der USA spielt die Region eine Schlüsselrolle, nirgendwo ist die Konzentration von Raffinerien, Öltanks und Pipelines höher als an der Golfküste von Texas und Louisiana. Texas wiederum drängt in Washington seit Längerem darauf, den Küstenschutz zu verbessern.
Erst im April schrieb George P. Bush, als Land Commissioner zuständig für staatseigene Ländereien, einen von zwanzig Bürgermeistern unterzeichneten Brief ans Weiße Haus, um den Bau eines Deichs zu fordern, auf der Höhe von Galveston, einer Hafenstadt im Ballungsraum Houston. Die Raffinerien des Landstrichs verarbeiteten fast ein Drittel des amerikanischen Rohöls, im Falle einer Sturmflut werde der wirtschaftliche Schaden katastrophal sein. Eine Lektion hätte man durch die Erfahrung früherer Jahre eigentlich lernen müssen, kommentiert nun der „Houston Chronicle“in einem Leitartikel. „Wir können nicht verhindern, dass uns ein Hurrikan trifft. Aber wir müssen alles Menschenmögliche tun, um uns darauf vorzubereiten.“
„Ab ein Uhr haben wir nur noch gebetet“