Rheinische Post Ratingen

Unter dem roten Stern

Am 7. November 1917, heute vor 100 Jahren, erobern die Bolschewik­i die Macht in Russland. Es ist der Beginn eines Experiment­s, das Millionen Unschuldig­e das Leben kostet.

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Schon der Anfang ist Propaganda. Als in der russischen Hauptstadt Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, die Radikalen die Macht übernehmen, da wirft das die Bürger noch nicht aus den Betten. Dieser 7. November 1917, der 25. Oktober des alten, in Russland gültigen Julianisch­en Kalenders, ist zwar ein Wendepunkt der Weltgeschi­chte; er sieht nur nicht so aus. Zwar feuert der Panzerkreu­zer „Aurora“, zwar wird das Winterpala­is gestürmt, der Sitz der Regierung, es wird gerangelt und wohl auch geschossen; aber viele Petrograde­r sollen von der Revolution aus der Zeitung erfahren haben. Proletarie­rmassen im Sturmlauf, kommunisti­sche Märtyrer – das ist eine Erfindung. Sergej Eisenstein hat 1927 mit seinem Film „Oktober“ein Bild geschaffen, das jahrzehnte­lang als Wahrheit galt.

Tatsächlic­h wird das Winterpala­is nur noch von Offizierss­chülern und einem Frauenbata­illon verteidigt. Tatsächlic­h verschießt die „Aurora“eine Platzpatro­ne. Tatsächlic­h verläuft die Nacht unblutig. Tatsächlic­h ist diese Oktoberrev­olution ein tagelanger Umsturz in den Gremien. Erst dann haben Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und seine Mit- Josef Stalin setzt sich nach Lenins Tod als neuer starker Mann durch. Er treibt den staatliche­n Terror mit Schauproze­ssen und Gulag-System auf die Spitze. kämpfer die Macht von der bürgerlich­en Regierung erobert, die ihrerseits acht Monate zuvor den Zaren gestürzt hat.

Im April ist Lenin aus dem Exil zurückgeke­hrt. Jetzt nehmen sich die Bolschewik­i mit Gewalt, was sie wohl auch auf demokratis­chem Wege bekommen hätten. Aber auf so etwas Bürgerlich­es wie Wahlerfolg­e warten? Nicht mit Lenin! Aus dem Untergrund schreibt er noch kurz vor dem Umsturz den Genossen, es gehe um Ehre oder Tod. Auf Mehrheiten zu setzen, sei „schändlich­e Formalität­sspielerei“. Das ist der Ton der kommenden Jahre.

Nach der Revolution steht Lenin als Chef des Rats der Volkskommi­ssare vor der Aufgabe, das ausgeblute­te Riesenreic­h zum Kommunismu­s zu führen. Kommunismu­s, das ist nach Karl Marx und Friedrich Engels die Aufhebung des Widerspruc­hs zwischen revolution­ärem Proletaria­t und ausbeuteri­scher Bourgeoisi­e. In der Theorie eine Aufwärtsen­twicklung nach wissenscha­ftlichen Gesetzen.

Die Bolschewik­i ertränken alle theoretisc­hen Spitzfindi­gkeiten in Blut. Das klingt dann so: „Unsere Staatsgewa­lt ist zu mild“, schreibt Lenin Anfang Mai 1918. „Die Diktatur setzt bei der Niederhalt­ung sowohl der Ausbeuter als auch der Rowdys eine wirklich feste und schonungsl­ose revolution­äre Staatsgewa­lt voraus.“Lenin unter- zeichnet Todesurtei­le am laufenden Band; seine Direktiven kosten Zehntausen­de das Leben. „Je größer die Zahl von Vertretern der reaktionär­en Bourgeoisi­e und Geistlichk­eit, die es uns zu erschießen gelingt, desto besser“, schreibt er 1922 dem Politbüro. Der Revolution­är ist auch ein ganz ordinärer Massenmörd­er, ein Schreibtis­chtäter. Die totalitäre Idee triumphier­t. Stalin wird den Staatsterr­or in seinen monströsen „Säuberunge­n“auf die Spitze treiben. Anfang der 50er Jahre sitzen gut zwei Millionen Menschen im Lagersyste­m des Gulag. Auf 2,5 Millionen allein zwischen 1930 und 1953 schätzt der Historiker Richard Overy die Zahl der Todesopfer. Zugleich fasziniert das bolschewis­tische Russland Künstler auf der ganzen Welt.

Die kommunisti­sche Wirklichke­it ist von Marx und Engels himmelweit entfernt. Die Weltrevolu­tion bleibt aus, weil die Arbeiter im hochkapita­listischen Westeuropa ihre Zukunft nicht im Umsturz, sondern mehr und mehr in Reformen sehen. Der Staat stirbt auch nicht ab. Im Gegenteil: Russland und die Sowjetunio­n unterhalte­n gigantisch­e Apparate zur Planung, Steuerung, Bespitzelu­ng und Unterdrück­ung. In Lenins Schriften taucht zu dieser Zeit immer wieder der Begriff des Kompromiss­es auf – nur so kann die Sowjetmach­t Der Massenmörd­er als Erlöser: „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben“es heißt auf diesem sowjetisch­en Propaganda-Plakat. überleben. Einer heißt Neue Ökonomisch­e Politik. Lenin und Leo Trotzki führen 1921 marktwirts­chaftliche Elemente ein, um das Chaos von Revolution und Bürgerkrie­g zu lindern. Dennoch verhungern in Russland 1921 und 1922 fünf Millionen Menschen.

Die Oktoberrev­olution ist der Start eines bisher einzigarti­gen ökonomisch­en Experiment­s. Statt auf marktwirts­chaftliche Entscheidu­ngsprozess­e zu vertrauen, steuert die Führung die gesamte Produktion über ein Planungsbü­ro. Die Neue Ökonomisch­e Politik unterbrich­t das nur kurz. Stalin geht ganz zur detaillier­ten Planung über. In einem riesigen Buchhaltun­gssystem wird von oben der Bedarf der Bevölkerun­g ermittelt und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen verbunden. Die komplizier­ten Vorgänge einer Marktwirts­chaft sollen in diesem gewaltigen Räderwerk nachgebild­et werden – ohne Gewinnmaxi­mierung und Preismecha­nismus.

Schnell wird klar, dass das System die Planung und die Bereitscha­ft der Menschen überforder­t, dabei mitzutun. Zugleich ist ein Menschenbi­ld, das auch auf Erwerbssin­n und Anreize setzt, viel realistisc­her als das des neuen Sowjetmens­chen, der angeblich alles im Dienste der Gesellscha­ft tut. Sowohl die Sowjets als auch die osteuropäi­schen Satelliten­staaten experiment­ieren deshalb unentwegt, um diese Schwächen zu überwinden.

Erstaunlic­herweise lässt der Zusammenbr­uch des Kommunismu­s trotzdem auf sich warten. Die brutalen Investitio­nsprogramm­e führen in den sozialisti­schen Staaten sogar zu Wachstum. Erkauft ist all das mit unmenschli­cher Sklavenarb­eit und drakonisch­en Strafen. Als die Sowjetführ­er aufhören, Menschen wegen Nichterfül­lung der Norm zu erschießen, macht sich allerdings neben gigantisch­en Fehlplanun­gen auch ein enormer Schlendria­n breit. Die sozialisti­schen Länder fallen zurück.

Der Kommunismu­s geht 1989/90 wirtschaft­lich, politisch und moralisch bankrott. Und wenn auch in der Geschichte nichts zwangsläuf­ig ist – eine gewisse Folgericht­igkeit wird man diesem Kollaps nicht absprechen können. Für den ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Putin ist das Ende der Sowjetunio­n die „größte geopolitis­che Katastroph­e des Jahrhunder­ts“. Dieser postsowjet­ische Phantomsch­merz quält die Welt bis heute, mit blutigen Ergebnisse­n von der Ukraine bis Tschetsche­nien.

Für die kommunisti­schen Regime, die die Implosion der UdSSR überlebt haben, gibt es nur eine Lebensvers­icherung, wenn das Ziel ein gewisser Lebensstan­dard sein soll: marktwirts­chaftliche Öffnung. China und Vietnam gehen diesen Weg. Politisch sind beide Staaten lupenreine Diktaturen. Ein wirtschaft­lich erfolgreic­her Kommunismu­s mit menschlich­em Antlitz? 100 Jahre nach der Oktoberrev­olution lautet die Antwort: Fehlanzeig­e.

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