„Demokraten müssen Klarheit schaffen“
Der Thüringer Ministerpräsident baut auf ein Jamaika-Bündnis und fordert einen Ersatz für den Soli, um abgehängte Regionen zu fördern.
BERLIN Wir erreichen den Ministerpräsidenten am Telefon in Erfurt. Was er gerade macht? Er sagt, er schaue aus dem Fenster auf die Straßenbahnhaltestelle und sehe Gäste ankommen. Bürger, die er mit einem Verdienstorden auszeichnen wird.
Herr Ramelow, setzen Sie auf Jamaika oder lieber auf Neuwahlen?
RAMELOW Ich sage ausdrücklich als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen: Ich baue auf Jamaika, und zwar schnell, zügig und schnörkellos. CDU, CSU, FDP und Grüne liegen so paradox weit auseinander, dass gerade darin die Chance liegt. Die müssen nicht eine Soße werden, die CSU muss sich nicht mit den Grünen auf einem Level begegnen und die Grünen nicht mit der FDP. Die sollen Handlungsfähigkeit herstellen, und dazu gehört es, die dringend notwendigen gemeinsamen Projekte zu beschreiben. Es geht ja nicht um eine Liebesheirat oder gar die Bildung einer Einheitspartei, nein, es geht um eine handlungsfähige Bundesregierung. Dies zügig zu erreichen, wäre das Geheimnis von Jamaika. Wir brauchen jedenfalls einen handlungsfähigen Gesprächspartner, eine neue Regierung.
Warum haben die Länder Zeitdruck?
RAMELOW Bei uns gibt es drängende Probleme: Durch den Brexit haben wir den statistischen Effekt, aus der EU-Förderung herauszufallen, der Soli steht zur Disposition, demnächst laufen sämtliche Förderprogramme für die Flüchtlingsintegra- tion aus. Darüber müssen wir reden. Neuwahlen können wir nicht gebrauchen.
Was muss der Osten bekommen? Ist er abgehängt, sind die Wessis schuld?
RAMELOW Schon in der Frage liegt eine falsche Reflexion. Es geht nicht darum, wie schlecht es dem Osten geht. Wir müssen weg von dem Image „Der arme Osten und der böse Westen“. Wir haben aber noch Unterschiede, die deutsche Einheit ist einfach noch nicht erreicht. Die Lohnhöhe, die Steuerkraft, die Vermögensverteilung – das alles ist im Osten nach wie vor schlechter als im Westen, und wir haben einen Mangel an Firmenzentralen. Die sind nicht einmal in homöopathischer Dosis vorhanden.
Was muss sich ändern?
RAMELOW Wir erwarten keine Brosamen oder Mildtätigkeit, sondern eine weitere Begleitung des Aufbaus Ost beziehungsweise vielmehr ein neues Förderungssystem für ganz Deutschland. Dabei sollte der Ab- stand zum deutschen Durchschnittsniveau der Wirtschaftslage als Maßstab für den Grad der Abgehängtheit und die Höhe der Förderung sein. Auch das Rheinland oder Bremerhaven oder der Pfälzer Wald brauchen Unterstützung. Wenn eine Jamaika-Koalition, wie von der FDP gefordert, den Solidaritätszuschlag abschafft oder schnell abbaut, muss es ein Förderinstrumentarium für abgehängte Regionen geben – eben im ganzen Land. Darüber herrschte zuletzt absolute Einigkeit unter den Ministerpräsidenten in Saarbrücken.
Was sollte Jamaika noch liefern?
RAMELOW Wir müssen Kinder fördern. Die Mehrwertsteuer muss für alle Kindersachen auf sieben Pro- zent gesenkt werden. Außerdem muss nach der Ehe für alle das steuerrechtliche Privileg für die Institution der Ehe fallen und in ein Steuerprivileg für Kinder, in eine Kindergrundsicherung, umgewandelt werden. Wir brauchen ferner eine Bürgerversicherung für alle, es darf keine Unterscheidung mehr nach Herkunft, Status und Einkommensart geben. Und wir brauchen bundesweite Volksentscheide. Das wäre auch eine Chance, den Hasardeuren von der AfD bei unangenehmen Themen entgegenzutreten. Es hilft nichts, etwas administrativ aus der Welt zu schaffen, die Themen holen uns wieder ein. Demokraten müssen Klarheit schaffen. KRISTINA DUNZ FÜHRTE DAS INTERVIEW.