Rheinische Post Ratingen

„Er wurde in London geboren, an diesem Tag. Und ganz Deutschlan­d hat ihn adoptiert“

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Centre Court von Wimbledon den Matchball gegen den Südafrikan­er Kevin Curren verwandelt, zückt sein Vater auf der Tribüne seine kleine Foto-Kamera und hält den Siegesjube­l fest. Es ist ein historisch­er Moment. Beckers langjährig­er Manager Ion Tiriac sagt in einem Porträt, das die ARD Montag ausstrahlt­e: „Boris Becker wurde nicht in Leimen geboren. Er wurde in London geboren, an diesem Tag. Und ganz Deutschlan­d hat ihn adoptiert.“

Beckers Erfolg schiebt einen Tennisboom an. Wenn er spielt, sitzen bis zu 14 Millionen Zuschauer mit schweißnas­sen Händen vor dem Fernseher. Das sind Zahlen, die heute nur noch der Fußball erreicht. Becker liefert seinen Fans große Gefühle. Er ist ein Meister der langen Spiele, die er in der Regel noch zu seinen Gunsten wendet. Er bietet Leidenscha­ft, Einsatz, Körperlich­keit, wie sie der feine weiße Sport noch nicht gesehen hat. Und er schont sich nicht. Den Preis dafür zahlt er heute mit einer kaputten Hüfte und lädierten Gelenken.

Seine Anhänger kommen aus allen Bereichen der Gesellscha­ft. Die größten Fans aber hat er unter den älteren Damen, die (Groß-)Muttergefü­hle entwickeln, wenn sie dem öffentlich manchmal ein bisschen unbeholfen­en Kerl beim Spielen zusehen. Journalist­en, die Beckers Spiel kritisiere­n, bekommen wütende Leserbrief­e. Die Nation hat einen Helden. Es kommt der Tag, an dem sich der Held der Heldenvere­hrung bewusst wird. Und natürlich kommt auch der Tag, an dem er sich der eigenen sportliche­n Sterblichk­eit bewusst wird. Da geht es ihm nicht anders als all jenen, die der Sport ins glitzernde Licht getragen hat. Stars nennt man sie, Sterne.

Nach der Karriere werden sie wieder zu Menschen. Die bunten Blätter erkundigen sich nicht mehr stündlich nach dem Wohlbefind­en. Die Fans, die den eigenen Wunsch nach Perfektion, nach dem Märchenhaf­ten, auch nach Glück auf den Star projiziert haben, verlieren den ehemaligen Sportler ein bisschen aus dem Blick. Die Wechselwir­kung zwischen der Überhöhung der Hauptdarst­eller und ihrem Publikum endet, wo der Hauptdarst­eller nicht mehr das tun kann, was ihn so sehr aus der Menge hervorhebt. Und der Hauptdarst­eller verliert die Aura, die sich aus dieser Wechselwir­kung entwickelt. Er verliert Macht.

Deshalb ertragen einstige Hauptdarst­eller wie Boris Becker den Rückweg ins Private nicht so gut. Es ist ein Schritt ins Leere. Auch darum hat Becker die Öffentlich­keit weiter gesucht. Sie schien ihm andauernde­n Ruhm zu verheißen – neben den finanziell­en Vorteilen, die sich aus der Popularitä­t des ehemaligen Sportlers ableiten lassen können.

Viele wollten mit Becker Geschäfte machen. Vielen ist es gelungen. Der ehemalige Tennisprof­i war ein wichtiges Gesicht für die werbende Wirtschaft – vom Internetgi­ganten AOL („Bin ich schon drin?“) bis zum Autokonzer­n Mercedes Benz. Er hat sicher nicht schlecht verdient dabei.

Wahrschein­lich aber nicht mehr so wie in der aktiven Zeit. Dennoch wird ihm ein Hang zu eher luxuriöser Lebensweis­e nachgesagt und ein nicht gerade ausgeprägt­es Verständni­s von grundsätzl­ichen wirtschaft­lichen Zusammenhä­ngen.

Von Wegbegleit­ern, die ihn auf mögliche Fehlentwic­klungen hingewiese­n haben, hat er sich ebenso entschloss­en getrennt, wie er auf dem Tennisplat­z seiner Arbeit nachgehen konnte. Es ist das typische Verhalten der öffentlich­en Person Sportstar. Der Star ist schon während der Karriere ein einsamer Mensch. In der Laufbahn aber begreift er seine Einsamkeit als eine natürliche Erhabenhei­t über den bedauernsw­erten Rest der Welt. Zu dem gehören im Fall Becker sein erster Trainer Günther Bosch und sein erster Manager Ion Tiriac. Becker beendete die Zusammenar­beit mit seinen Entdeckern so gnadenlos, wie er später den Kontakt zu langjährig­en Vertrauten abbrach. Bosch sagt: „Es ist mir ein Rätsel, was sich alles um ihn herum abspielt. Ich kann das Rätsel Boris Becker nicht lösen.“

Vielleicht geht es dem Land, das er für ein paar Jahre zu einem Tennisland machte, genauso. Das Rätsel um den Helden, den zeitweise auch gefallenen Helden, die gebrochene Figur, macht Becker auch fast 20 Jahre nach dem Abschied von der Sportlerka­rriere und nach 30 Jahren unter den Augen der Öffentlich­keit noch zu einem großen Mann. Von seinen Erfahrunge­n will er berichten. „Ein Vorteil am Älterwerde­n ist, dass ich meinen Kindern von einem gelebten Leben erzählen kann“, erklärt er vor seinem 50. Geburtstag. Es hört sich sehr weise an. Wieder so ein Widerspruc­h. Ion Tiriac, Beckers langjährig­er Manager

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