„Die SPD ist ängstlich und unsicher“
Der einstige SPD-Chef hält es für den Erfolg der Sozialdemokraten nicht für entscheidend, ob sie in der Opposition oder in der Regierung sind.
BERLIN Wir erreichen Oskar Lafontaine am Telefon. Der 74-Jährige sitzt in seinem Büro im saarländischen Landtag mit Blick auf das Saarbrücker Schloss. Für eine schwarz-rote „Kooperationskoalition“mit wechselnden Mehrheiten sieht der Landtagsfraktionschef der Linken keine Basis.
Herr Lafontaine, die mögliche große Koalition sucht nach einer „Erzählung“, die die Bürger begeistert. Können Sie als Ex-SPD-Chef aushelfen, oder sind Sie gleich für Neuwahlen?
LAFONTAINE Eine Erzählung, die die Bürger begeistern würde, wäre der Wiederaufbau des Sozialstaats, eine Europapolitik der guten Nachbarschaft und die Wiederaufnahme der Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts. Die Politik von CDU, CSU und SPD in den letzten Jahren war das Gegenteil: Abbau des Sozialstaates, deutsche Vorherrschaft in Europa, und die Bundeswehr steht an der russischen Grenze. Neuwahlen? Wenn dieselben Gesichter mit denselben Programmen antreten, sind Neuwahlen sinnlos.
Wäre es ein Umfallen, wenn die SPD jetzt doch Schwarz-Rot macht?
LAFONTAINE Die entscheidende Frage ist nicht, ob die SPD in der Oppo- sition oder in der Regierung ist, sondern ob sie sich von der Politik verabschiedet, die zur Halbierung ihrer Wählerschaft geführt hat, also von den Gesetzen zur Lohndrückerei und zur Rentenkürzung. Unsichere Arbeitsverhältnisse – Befristung, Minijobs, Werkverträge – müssen weg, damit für Millionen Menschen das Leben wieder planbar wird.
Martin Schulz wird mangelnde Führungsstärke nachgesagt. Warum haben es SPD-Chefs immer so schwer?
LAFONTAINE Für den Niedergang der SPD seit 1999 ist nicht allein Martin Schulz verantwortlich, sondern ebenso Gerhard Schröder, Franz Müntefering und das gesamte Führungspersonal der SPD. Nur wenn sich die SPD von der AgendaPolitik verabschiedet, hat sie noch eine Chance. Die SPD ist ängstlich und unsicher und weiß nicht, welchen Weg sie gehen soll. Dabei ist es doch so einfach: Wenn man immer wieder Wahlen verliert, muss man die Politik ändern, die die Wähler vertreibt.
Was sollte die SPD durchsetzen?
LAFONTAINE Ein wirklicher Durchbruch wäre ein Rentengesetz wie in Österreich. Dort zahlen auch Selbstständige und Beamte in die Rentenkasse. Die Bürger haben im Durchschnitt 800 Euro mehr im Monat.
Was halten Sie von einer „Kooperationskoalition“, einer Koko? Die SPD würde sich die Freiheit wechselnder Mehrheiten nehmen.
LAFONTAINE Eine rot-rot-grüne Mehrheit war 2005 und in der vorigen Wahlperiode da. Aber die SPD konnte sich nur bei der „Ehe für alle“zu einer Zusammenarbeit durchringen. Weil sie von der Agenda-Politik nicht lassen wollte, stimmte sie nicht mit uns gemeinsam ab, um Lohndrückerei und Rentenkürzungen zu beenden. Nur so wäre sie wieder glaubwürdig geworden. Diese Chance ist verspielt, und jetzt gibt es im Bundestag keine Mehrheit mehr, um etwas am Sozialabbau der letzten Jahre zu ändern. KRISTINA DUNZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.