Wie Bach die Geburt Christi feiert
Eine Stuttgarter Neuaufnahme des „Weihnachtsoratoriums“imponiert mit himmlischem Glanz und bezaubernder Anmut der Hirten.
DÜSSELDORF Die Zeitspanne vom Advent bis zum ersten Weihnachtstag gibt Raum für theologische und sinnliche, in jedem Fall für hinreißende Inszenierungen. Bange Erwartung erfüllt sich durch freudige Ankunft; Stille schlägt um in Festtagsjubel; adventliche Dunkelheit, allenfalls vom Gefunzel einiger Kerzen illuminiert, wird von weihnachtlichem Flutlicht geblendet. Und Unsicherheit wandelt sich zu Gewissheit: Der Gottessohn, der Immanuel, der Messias, lange heiß erwartet, ist unter uns – geboren in einer Krippe. Donnerwetter!
In der Musik für diese Zeit fällt dieser Wandel selbst Schwerhörigen auf. Die Kirchenlieder zum Advent sind vorzugsweise in Moll gehalten, sie streben durch Zeit und Raum wie in „Es kommt ein Schiff geladen“oder „O Heiland, reiß die Himmel auf“, erreichen zur Mitte des Lieds ihren Höhepunkt – und zwar im Tonumfang einer Oktave, also eindeutig himmelwärts –, und krümmen sich dann wieder ins dunkle Nest der Tiefe. Weihnachtslieder klingen anders, optimistischer, doch auch sie bergen theologische Verweise auf Vergangenes oder Kommendes. So versteckt die Eingangsklausel des meist aus vollen frohen Rohren abgefeuerten Liedes „Heiligste Nacht“mit der Tonfolge f’-c’-a’-f’ das Emblem des „liegenden Kreuzes“: Man sieht es, wenn man jeweils Anfangs- und Endton dieser Mini-Melodie und deren beiden Mitteltöne verbindet. Karfreitag und Ostern sind also mu- sikalisch bereits zu Weihnachten aktenkundig, in greifbarer Nähe.
Auch das „Weihnachtsoratorium“von Johann Sebastian Bach birgt solche überzeitlichen Verweise. Der erste Choral, „Wie soll ich dich empfangen“, folgt mit adventlicher Unsicherheit der Melodie des Passionslieds „O Haupt voll Blut und Wunden“, dem Bach in seiner „Matthäus-Passion“mehrfach zentralen Raum gibt. Ein Könner wie der Dirigent Hans-Christoph Rademann versteht diesen Choral im „Weihnachtsoratorium“als Menetekel – da klingt ein Geheimnis an, die Ahnung, dass im Anfang das Ende bereits enthalten ist. In seiner Neuaufnahme von Bachs Meisterwerk beim Label Carus holt Rademann solche Mehrdeutigkeiten wunderbar heraus, zumal er die Kontraste schärft: auf der einen Seite das virtuos-tänzerische „Jauchzet, frohlocket“des Beginns, auf der anderen hochmeditative, fast spekulative Momente wie die Alt-Arie „Schließe, mein Herze“.
Die Gaechinger Cantorey (die unter ihrem frühen Chef Helmuth Rilling noch „Gächinger Kantorei“hieß) ist für höchste Ansprüche an eine gleichsam musikalische Exegese des Evangeliums und seiner Deutungsmöglichkeiten ideal geeignet. Ein genial-schmiegsamer Kammerchor und ein Spitzenorchester musizieren und artikulieren elastisch, aber nie pedantisch. Rademann ist als Nachfolger Rillings bei den Gaechingern genau der richtige Mann: Sein Bach hat Farbigkeit, Glanz, Pracht, doch nichts Hyperaktives.
Die Solisten sind großartig, nur der Evangelist ist in seinen Rezitativen manchmal etwas unsauber, das hätte der produzierende SWR nicht hinnehmen dürfen. Aber das sind Mikro-Traumata in einer ansonsten wundervollen Einspielung, die beinahe an die Referenzaufnahme des Stücks herankommt: die unvergleichlich schöne Einspielung mit
In manchem Weihnachtslied sind Karfreitag und Ostern theologisch bereits angedeutet