Eine Liebe in Venedig
Hatte der Komponist und Priester Vivaldi eine Geliebte? War es seine Geigenschülerin Anna Maria? Unser Autor wagt eine Spekulation und leiht sich dazu das beste Team: die Helden aus Donna Leons Kriminalromanen. Eine neue CD bietet weitere Hilfestellung.
Es war ein milder Frühlingstag, Venedig befand sich in Hochstimmung, die Wasserschäden vom Winter waren beseitigt, alle freuten sich, dass die Sonne bereits Kraft entfaltete. Nur Commissario Brunetti wirkte angespannt. Sein Chef, der launenhafte und eitle ViceQuestore Patta, hatte ihn herbeizitiert. Jetzt stand Brunetti im Vorzimmer und sondierte die Lage.
Signorina Elettra nickte Brunetti aufmunternd zu. „Gehen Sie ruhig rein, Commissario. Er ist wie ausgewechselt. Den ganzen Tag hört er schon Vivaldi.“
Brunetti runzelte die Stirn. „Ich denke, Patta steht auf schwere Opern und mag Vivaldi gar nicht?“
Wie immer wusste Elettra mehr. „Commissario, da ist eine Platte erschienen, die ein ganz neues Licht auf den Komponisten wirft. Vivaldi war ja Venezianer. Der Vice-Questore ist elektrisiert. Das sei ein Kriminalfall, hat er mir zugeflüstert, als ich ihm einen Espresso brachte.“
Brunetti nickte. „Na dann.“Nach einem kurzen Klopfen betrat er das großzügige Dienstzimmer des Chefs der venezianischen Kriminalpolizei.
Patta stellte den CD-Player etwas leiser und funkelte seinen brillantesten Ermittler mit Verschwörermiene an: „Brunetti, Sie müssen etwas für mich recherchieren. Sie haben doch Kontakte zur Musikerszene. Die Frage ist: Hatte Vivaldi eine Geliebte?“
Brunetti zuckte mit den Schultern: „Wie soll ich das wissen, Vice-Questore? Außerdem bin ich mit dem Fall Settembrini beschäftigt.“
Patta wirkte verstimmt. „Brunetti, hören Sie doch mal auf mit Ihren ewigen Leichen. Sie sollten Ihren eigenen Horizont erweitern. Vivaldi war ja nicht nur Komponist, er war auch Priester. Im Beiheft zur CD wird angedeutet, dass er eine seiner Schülerinnen sehr gern hatte. Sie verstehen, was ich meine? Wenn das Rom wüsste! Ich muss kommende Woche ins Innenministerium, da wäre ich der Held des Tages.“
Brunetti murrte. Hatte er nicht diesen Mord an Giuseppe Settembrini am Hals, der die Belange der Gondolieri im Stadtrat vertrat? Den hatte man mit einer Harke im Rücken in einem Garten auf Giudecca gefunden. Keiner wusste, wie die Leiche dorthin gekommen war. Sergente Vianello war vor Ort und befragte die Anwohner.
Brunetti beschloss, seinen Freund Salvatore Malipiero anzurufen, den Musikkritiker der Lokalredaktion von „La Stampa“. Der galt als Vivaldi-Experte; diese Kompetenz war, als er aus dem snobistischen Mailand nach Venedig kam, eine Einstellungsbedingung gewesen.
Brunetti hörte Malipiero durchs Telefon nachsichtig lächeln. „Ach Guido, die Sache mit Vivaldi und Anna Maria ist doch ein alter Hut.“
Brunetti seufzte. „Wie du weißt, habe ich keine Zeit, Musikergeschichten aus dem italienischen Barock nachzugehen. Mach mich mal schlau!“
Malipiero holte aus. „Pass auf. Dass Vivaldi als Kind toll Geige spielte, wissen wir. Aber mit 15 Jahren bekam er auch eine Tonsur und empfing die niederen Weihen.“
Brunetti war überrascht. „Wollte er damals schon Priester werden?“
Malipiero zögerte. „Das weiß keiner. Mit 18 Jahren wurde er Subdiakon, aber Theologie hat er nie studiert. Er wurde vielmehr zum Priester ausgebildet. Learning by doing, wie die Engländer sagen würden. Geweiht wurde er 1703, als er 25 war.“
Brunetti begann sich für die Sache zu interessieren. „Und was hat es mit dieser Anna Maria auf sich?“
Malipiero kannte die Geschichte genau. „Vivaldi hat nach der Weihe nur kurze Zeit als Kaplan gewirkt, und zwar an der Kirche Santa Maria della Pietà im Stadtteil Castello. Zugleich hat er am angegliederten Waisenhaus, dem Ospedale della Pietà, als Geigenlehrer gearbeitet. Da hat er auch ein großartiges Mädchenorchester geleitet.“
Brunetti horchte auf. „Und Anna Maria gehörte diesem Orchester an?“
Malipiero genoss es, die Wissbegierde seines Freundes langsam zu steigern. „Ach was, sie war der Star des Orchesters, eine überragende Geigerin, die auch andere Instrumente spielte, sogar Viola d’amore.“Brunetti erinnerte sich, dass er selbst als Kind mal zwei Jahre lang erfolglos Violinunterricht genossen hatte. Seine Frau Paola hatte als Kind immerhin im Schulorchester gespielt, allerdings Bratsche.
Jetzt war es an Malipiero, Fragen zu stellen. „Und warum willst du das alles wissen, Guido?“
Brunetti erzählte ihm von seinem Besuch bei Patta und dessen kuriosem Auftrag.
Malipiero wirkte erstaunt. „Über diesen Aspekt habe ich noch gar nicht nachgedacht. Wir wissen nur, dass Vivaldi im Jahr 1705, nach 18 Monaten nur, seinen Dienst als Priester quittierte.“
In Brunetti kam der Commissario durch. „Salvatore, dafür muss es einen Grund gegeben haben.“
Malipiero machte einen Vorschlag. „Guido, ich recherchiere das mal.“
Wenig später kam Vianello zurück in die Questura. „Commissario, die Sache Settembrini bekommt Fahrt. Ich habe ermittelt, dass der oberste Gondoliere neulich im Verkehrsdezernat einen heftigen Streit mit Giovanni Pezzi hatte, dem Gewerkschaftsboss der Vaporetto-Kapitäne.“„Und?“„Die Pointe ist, dass Settembrinis Sohn eine Liebschaft mit Pezzis Tochter hatte, die ihn aber wegen eines adligen Schnösels sitzen ließ. Darauf soll Settembrini seinen alten Widersacher Pezzi tödlich beleidigt haben; sinngemäß habe er gesagt, er sei nichts anderes als der Vater einer Hure.“
Unklare Sache, wenig überzeugend. Doch weil Vianello Blut geleckt hatte, beschloss Brunetti, den tüchtigen Sergente den Fall vorerst allein bearbeiten zu lassen. Brunetti war sowieso erleichtert, er hasste Harken und andere Gartengeräte, weswegen er vor vielen Jahren eine sündhafte teure Etagenwohnung direkt am Canal Grande gekauft hatte. Die hatte bloß einen Balkon.
Brunetti gedachte wehmütig seiner laienhaften Versuche, Geige zu spielen, und ging zu Gioacchino Bellini, der nahe der Rialto-Brücke einen CD-Laden führte.
Bellini war eine Eminenz in klassischer Musik. „Commissario, was verschafft mir die Ehre?“
Brunetti fragte nach der neuen Vivaldi-Aufnahme, die er in Pattas Büro gehört hatte. Bellini hatte sie vorrätig und war selbst einer ihrer Fans. „Diese Platte ist wirklich ein Genuss. Man hört da eine Reihe jener wunderbaren Violinkonzerte, die Vivaldi für Anna Maria geschrieben hatte. Für die hat Vivaldi ja geschwärmt.“Brunetti spitzte die Ohren. „Wie kommen Sie darauf?“„Denken wir nur ans Adagio des Es-Dur-Konzerts. So für die Geige schreibt nur einer, der die Geige liebt.“Brunetti entfuhr es: „Oder die Geigerin!“Bellini hob den Zeigefinger. „Hören Sie doch einfach hinein. Ich lege die CD mal auf.“
Andächtig lauschten die beiden Männer diesem langsamen Satz, herrlich gespielt von der deutsch-japanischen Geigerin Midori Seiler und Concerto Köln.
Bellini nahm den Faden wieder auf. „Commissario, da ist noch etwas. Wissen Sie, warum Vivaldi seinen Dienst als Priester aufgegeben hat? Er hat mal geschrieben, er habe eine ,strettezza di petto’ gehabt, Enge in der Brust. Also auf den ersten Blick medizinische Gründe.“
Brunetti ahnte, was Bellini meinte. „Vielleicht war ihm das Herz eng, weil er Anna Maria liebte und das mit seinem Priesteramt unvereinbar fand.“
„Mag sein, Commissario. Aber Anna Maria war ja 18 Jahre jünger als Vivaldi. Unsere Idee steht auf sehr tönernen Füßen. “
Brunetti lachte beim Abschied. „Ich finde, sie steht in jedem Fall auf sehr tönenden Füßen.“
In Brunettis Fahnderhirn ratterte es. Vielleicht hat der Maestro das Mädchen gemocht und früh dessen überragende Begabung erkannt. Trotzdem, Anna Maria war erst sieben Jahre alt, als Vivaldi die Priestersoutane an den Nagel hängte. War er pädophil? Unwahrscheinlich. Das Ospedale war ein Taubenschlag, in dem nichts verborgen blieb.
In diesem Moment klingelte Brunettis Handy. Malipiero, der Journalist, war dran. „Guido, wo bist du?“„Ich komme gerade aus Bellinis Laden. Warum?“„Ich sitze in der Biblioteca Nazionale und habe eine sensationelle Entdeckung gemacht. Nimm das Polizeiboot, das hier ist ein Knüller!“
Malipiero erwartete Brunetti im Eingangsfoyer. „Guido, darf ich Dir meinen Studienfreund Claudio Eco vorstellen? Er leitet hier die Handschriftensammlung. Er hat mir Vivaldis Originalstimmen für die Anna-MariaKonzerte gezeigt, und da ist uns etwas aufgefallen.“
Brunetti drückte aufs Tempo. „Was? Nun sagt schon!“
Eco spielte seinen Trumpf aus. „Auf einer Originalstimme von Anna Maria steht ganz oben der Vermerk ,AMore’. Und zwar genau so: mit großem A und großem M. Das heißt: für Anna Maria in Liebe. “
Malipiero war sich sicher: „Das hat Vivaldi nicht grundlos geschrieben. Das ist eine Chiffre, und Anna Maria hat sie verstanden. Sie hätte Karriere machen können, aber sie ist im Waisenhaus geblieben. Vielleicht ja auch, weil sie bei Vivaldi eine Art Seelenverwandtschaft spürte.“
Brunetti durchfuhr ein Blitz. „Lass das ,Seelen’ vor , Verwandtschaft’ weg. Vielleicht ist das der Schlüssel!“
Malipiero und Eco begriffen. Der Commissario geriet in Fahrt. „Im Jahr 1696 wird im Ospedale della Pietà ein Neugeborenes abgeliefert. Damals gab es ja schon Babyklappen. Die Mutter wollte es entweder nicht aufziehen, weil sie arm war, oder sie wollte, dass das Mädchen, wenn es älter war, bei jemandem aufwuchs, der sich optimal kümmerte. Den Vater kennt sie, denn das Mädchen ist rothaarig. Welche Haarfarbe hatte Vivaldi? Eco und Malipiero im Chor: „Rot!“„Das ist es.“Pause. „Vivaldi ist Anna Marias Vater.“Eco rang nach Luft. Malipiero stöhnte – und nickte.
Brunetti führte seine Theorie aus: „Als 17-Jähriger hat Vivaldi eine kurze Begegnung mit einer jungen Frau. Sie war seine einzige Jugendliebe. Für eine Schwangerschaft ist die Begegnung lang genug. Die Mutter trägt das Kind heimlich aus und bringt es ins Ospedale. Später informiert sie Vivaldi, dass er eine Tochter hat, die viel von ihm geerbt hat, ganz sicher die Musikalität, vielleicht auch die Haarfarbe.“
Malipiero war zunehmend begeistert. „Ja, so könnte es gewesen sein. Deshalb sorgt Vivaldi, dem das alles zu Herzen geht, im Jahr 1703 dafür, dass er an der Pietà als Priester und als Musiklehrer angestellt wird. Eigentlich eine tolle Kombination. Doch auf Dauer kann er es nicht aushalten, und er will kein Priester mehr sein. Später gibt er sich Anna Maria zu erkennen.“
Brunetti stimmt zu. „Ja, wahrscheinlich wusste sie alles. Aber beide behalten ihr Geheimnis für sich, sie war ja die einzige Person, die mit ,AMore’ etwas anfangen konnte.“Brunetti strahlte. „Freunde, ich muss zu Patta.“
Signorina Elettra nahm den Commissario vorsorglich beiseite. „Ich glaube, dem Vice-Questore hat es den Tag verhagelt. Rom hat ihn ausgeladen. Stattdessen soll der Vice-Questore aus Pisa fahren.“
Brunetti klopfte vorsichtig an, trat ein und war guten Mutes, die Stimmung seines Chefs heben zu können. Er trug alles vor: die historischen Zusammenhänge, den „AMore“-Fund aus der Biblioteca Nazionale, die Haarfarbe, nicht zu vergessen die Liebeskraft der Musik.
Patta fuhr ihn unwirsch an: „Brunetti, verschonen Sie mich mit Ihren hanebüchenen Gedanken. Dafür gibt es doch gar keine Beweise. Ein Waisenkind die Tochter unseres großen Antonio Vivaldi? Papperlapapp!“
Und nach einer kurzen Pause: „Statt in Komponistenbiografien herumzuschnüffeln, sollten Sie Morde aufklären. Dafür bezahlt Venedig Sie, Commissario! Was macht eigentlich der Fall Settembrini?“
Der Komponist, seine Schülerin und eine neue CD aus Köln
Antonio Vivaldi Der Komponist wurde 1678 in Venedig geboren und starb 1741 in Wien. 1703 wurde er zum Priester geweiht und wirkte kurz als Kaplan an Santa Maria della Pietà. Dort unterrichtete er Anna Maria auf der Geige; über ihr Verhältnis gibt es keine Angaben. Bekannt war Vivaldi wegen seiner roten Haare. Anna Maria Das Waisenkind wurde 1696 in Venedig geboren, wuchs im Ospedale della Pietà auf, dem ein Musikkonservatorium angegliedert ist, und bekam bald Geigenstunden bei Vivaldi. Er schrieb über 30 Konzerte für sie. In einer Solostimme steht Vivaldis Vermerk: „AMore“. Neue CD „La Venezia di Anna Maria“, Violinkonzerte von Vivaldi, Galuppi und Albinoni; Midori Seiler (Violine), Concerto Köln, zwei CDs; erschienen bei Berlin Classics.